Schwarzenbek. Der 1848 gegründete Herrenausstatter Tiedemann ist das wohl älteste Einzelhandelsgeschäft in Schwarzenbek. Wie alles begann.
In Berlin und vielen anderen Metropolen Europas herrscht der Geist der Revolution gegen die Obrigkeit. Herren tragen Zylinder und Gehrock, die Dame von Welt zwängt sich in Corsage und Reifrock: Das Jahr 1848 ist geschichtsträchtig. Und auch in Schwarzenbek schreibt der Schneidermeister Christian Tiedemann ein wichtiges Stück Stadtgeschichte.
Vor 175 Jahren eröffnet der Handwerker im Oktober 1848 ein Textilgeschäft an der Lauenburger Straße. Es existiert bis heute und hat sich über viele Generationen einen guten Ruf als Herrenausstatter gemacht.
Viele Generationen Schwarzenbeker bekamen ihren ersten Anzug bei Tiedemann
Wer heute in den Laden in der Lauenburger Straße 16 kommt, denkt mitunter, dass die Zeit stehen geblieben ist. In der Ecke tickt eine alte Standuhr, die Holzdielen auf dem Boden knarren, und ein Handwagen sowie eine alte Kasse mit Holzverkleidung verbreiten anheimelnden Charme. Die Ware ist aber modisch auf dem neuesten Stand.
Karl Tiedemann & Sohn dürfte das älteste Geschäft in Schwarzenbek sein – zur Gründung der Schneiderei noch ein Bauerndorf mit 500 Einwohnern. Wenig später geht ein Hökerladen in der Compestraße 6 beim ehemaligen Vorwerk an den Start, aus dem später Schröders Hotel wird. Das ist aber erst 1851, also drei Jahre nach der Gründung der Schneiderei.
Ältestes Geschäft der Stadt feiert 175. Geburtstag
Direkt gegenüber der Schneiderei eröffnet 1882 das Schuhhaus Krützmann. Seit Langem ein wichtiger Partner des Herrenausstatters. „Ich habe alles für den Herren. Mein Angebot reicht von Socken über Unterwäsche, Gürtel, Krawatten und Hemden bis hin zu Anzügen, Freizeitkleidung und warmen Jacken. Ich kann also Männer und Jugendliche komplett einkleiden. Aber bei Schuhen muss ich passen“, sagt Miriam Sievert, seit 2002 Inhaberin des Geschäfts mit aktuell 120 Quadratmeter Ladenfläche.
Aber zurück ins Jahr 1848. „Große Betriebe waren nach der preußischen Gewerbeordnung nicht zugelassen in Schwarzenbek. Wer ein Gewerbe treiben wollte, musste das als Nebenerwerb neben seiner Tätigkeit in der Landwirtschaft machen“, berichtet Gisela Berger vom Heimatbund und Geschichtsverein.
Preußische Gewerbeordnung verbot größere Betriebe in der Stadt
Christian Tiedemann kauft also ein Bauernhaus an der Ecke Schmiedestraße/Lauenburger Straße, das auch als sogenanntes Wegehaus dient, weil an der Chaussee nach Lauenburg für die Nutzung Maut gezahlt werden muss. Die Chausseen verloren im Jahr 1846 an Bedeutung, weil zu diesem Zeitpunkt der erste Schwarzenbeker Bahnhof eröffnet wurde. Es fahren weniger Kutschen, aber die Bahn und der zunehmende Durchgangsverkehr sorgen auch für Aufschwung.
Der Schneidemeister ergreift die Chance, baut Bauernhof und Wegehaus um, richtet dort seine Werkstatt ein und fertigt Maßkleidung – mit Erfolg. Im Oktober 1885 übernimmt sein Sohn Carl Tiedemann das Geschäft und erweitert das Sortiment gewaltig. Im Laufe der nächsten Jahre baut der junge Schneidermeister an das alte Wohnhaus einen Neubau an. Allerdings ist das Gebäude zum damaligen Zeitpunkt noch eingeschossig.
1894 gab es erstmals eine größere Auswahl Fertiggarderobe in Schwarzenbek
Er fertigt nicht mehr nur Maßkleidung an, sondern handelt fortan auch mit Fertiggarderoben. Angesichts der nach wie vor landwirtschaftlichen Prägung des mittlerweile knapp Tausend Einwohner zählenden Dorfes ist es in erster Linie Arbeitskleidung, die gefragt wird. Das ist heute anders. „Ich führe auch noch Berufskleidung. Aber das ist nur ein Spartenprogramm, das beim Umsatz kaum noch eine Rolle spielt“, sagt Inhaberin Miriam Sievert.
Für den weiteren Erfolg des Bekleidungsgeschäfts spielt das kurz vor dem Wechsel ins 20. Jahrhundert aber eine entscheidende Rolle. Es wächst aber auch der Bedarf an Alltagskleidung, woraufhin der Wandel zum Fachgeschäft für Herren- und Knabenkleidung vollzogen wird. Noch heute ist Herrenmode das Kerngeschäft des Herrenausstatters.
Inhaber teilt ergebenst die Erweiterung seines Ladens mit
1894 ist die erste große Erweiterung fertig und die Erweiterung des Sortiments vollzogen. Schneidermeister Karl Tiedemann schaltet eine großen Anzeige in den Schwarzenbeker Nachrichten, in denen er seine Waren anpreist. „Dem verehrlichen Publikum von Schwarzenbek und Umgebung zeigt ich ergebenst die Eröffnung meines großen neuen Ladens an“, textet der Handwerker.
1912 bekommt der Anbau ein weiteres Stockwerk, und das Geschäft bekommt seine heutigen Dimensionen. Im oberen Stockwerk wohnt bis heute Ulla Tiedemann, die Tochter des letzten Firmenchefs Karl-Ludwig Tiedemann aus der Familiendynastie. Zeitgleich mit der Erweiterung des Gebäudes kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs übergibt Carl Tiedemann an seinen Sohn Karl Tiedemann. Der hat gerade seine Meisterprüfung abgelegt, seine Frau Emmi geheiratet und den Laden renoviert, als er kurz darauf in den Krieg ziehen soll. Ein Magengeschwür verschont ihn vor dem Kriegsdienst, aber der Laden verwandelt sich in ein Lager für gebrauchte Kleidung, die auf staatliche Anordnung für die Beschäftigten in der Heimat gesammelt werden muss.
Nach dem Krieg wird das Lager geräumt, und es gibt kaum noch neue Ware. Rohstoffe sind knapp, sogar Papier wird für die Kleiderherstellung verwendet. Mit der Rentenmark kommt die Inflation, ein Schlips kostete stündlich mehr, am Ende geht der Preis in die Milliarden, erinnert sich Karl Tiedemann in einer Chronik, die zum 125-jährigen Bestehen seines Geschäfts verfasst wurde.
Zwei Weltkriege sind eine große Herausforderung für den kleinen Laden
In den 1930er-Jahren tritt mit Karl-Ludwig Tiedemann der Letzte aus der Familiendynastie in das Geschäft ein. Dann kommt der Zweite Weltkrieg, und Karl-Ludwig dient als Nachrichtenoffizier. Nach Kriegsende kommen englische Besatzungstruppen nach Schwarzenbek. Die Briten beziehen den Laden und die Wohnung als Quartier, geben das Geschäft zur Plünderung für die zahlreichen Kriegsflüchtlinge frei.
Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft baut Karl-Ludwig Tiedemann den Laden neu auf und schneidert Kleidung für die Flüchtlinge. 1956 bekommt der Laden erstmals eine Schaufensterfront und wird weiter ausgebaut. Aus der Stadtgeschichte ist der Bekleidungsladen schon damals lange nicht mehr wegzudenken. Allerdings fehlt ein Nachfolger in der eigenen Familie.
Tiedemann geht, Familie Sievert übernimmt den Traditionsbetrieb
1982 übernahm das Schwarzenbeker Ehepaar Sievert. Udo Sievert arbeitete bei einem renommierten Herrenausstatter in den Großen Bleichen in Hamburg, wollte aber sein eigenes Geschäft. Ehefrau Bärbel war bei Autohändler Dobberkau in Reinbek beschäftigt und wollte mit einsteigen. Beide wollten eigentlich einen Laden in dem im Bau befindlichen Geschäftshaus am Ritter-Wulf-Platz kaufen. Das bekam Karl-Ludwig Tiedemann mit und kam mit Udo Sievert ins Geschäft. Sievert zog seine Option für den Ritter-Wulf-Platz zurück und übernahm Tiedemann. 2002 stieg Tochter Miriam ein. „Das ist mein Traumberuf“, sagt die 54-Jährige.
Heute kommen Kunden, die schon als Kinder ihren ersten Konfirmationsanzug bei Tiedemann bekommen haben, mit ihren eigenen Kindern. Laufkundschaft ist mit der Zeit allerdings selten geworden, weil an die Lauenburger Straße kaum noch Menschen zum Flanieren kommen. Wie die meisten Fachgeschäfte in der City lebt auch Miriam Sievert von treuen Stammkunden, die ganz gezielt in den Laden kommen. „Männer sind einfache Kunden. Sie wissen, was sie wollen, und kommen, wenn sie wirklich einen Anzug oder eine Jacke brauchen. Wenn die Qualität und der Preis stimmen, ist das Geschäft auch schnell abgeschlossen“, sagt Miriam Sievert. Einen netten Plausch mit der Inhaberin und ihrer Teilzeitangestellten gibt es kostenlos dazu.
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Schwierige Zeiten hat aber auch Miriam Sievert schon erlebt. „Erst kam Corona, da haben wir Kunden an der Tür vor dem Laden bedient. Die Kleidung mussten sie zum Anprobieren mit nach Hause nehmen. Außerdem hatte ich gerade renoviert und die alten Bodendielen wieder freigelegt. Da war der Lockdown ein echtes Problem. Zum Glück haben viele Freunde bei den Arbeiten geholfen, sodass die Kosten im Rahmen geblieben sind“, erinnert sich die Kauffrau.