Estebrügge. Im Alten Land befindet sich eine seit 60 Jahren unberührte Fläche. Was passiert, wenn die Natur der Hauptakteur ist? Ein Besuch

„Hört mal genau hin“, flüstert Axel Jahn und bleibt andächtig stehen. „Eine Singdrossel! So eine findet man auf keiner Obstplantage“, erklärt er freudestrahlend. So schwer dieser kleine gefleckte Vogel im Alten Land zu finden sein mag, umso leichter lässt sich der große Wald entdecken, durch den an diesem Tag Axel Jahn führt. Er ist Geschäftsführer der Loki Schmidt Stiftung, in deren Besitz die Fläche ist.

Mit einer Größe von 15,3 Hektar überragt der imposante Wald die umliegenden Obstplantagen in Estebrügge um Längen und macht ihn laut Jahn zum größten seiner Art im Alten Land. Ein idyllischer, ungestörter Ort, wo nicht der Mensch, sondern die Natur als Hauptakteur – und Dekorateur auftritt.

Bis in die frühen 1960er Jahre baute dort eine Ziegelei Ton ab

Denn seit genau 60 Jahren entfaltet sich der Wald vollkommen ohne menschliches Einwirken. Bis in die frühen 1960er Jahre baute dort noch eine Ziegelei Ton ab. „Es war der größte Spielplatz, den ein Kind haben konnte“, erinnert sich die ehemalige Eigentümerin Dörte Harms-Krüger an ihre Kindheit zwischen den vielen Loren zurück. Auch sie ist an diesem leicht verregneten Tag dabei.

Als 1962 die Deiche der großen Sturmflut nicht mehr standhielten, mussten die Arbeiten eingestellt werden und das Gebiet wurde weitestgehend sich selbst überlassen. Ein Rückzugsort für die unterschiedlichsten Tier- und Pflanzenarten entstand.

Großzügiger Spender vermacht der Stiftung Fläche an der Alster

Kleinspechte und Sperber brüten in dem reinen Laubwald. Pappeln, Weiden und Erlen strecken ihre mächtigen Baumkronen dem Himmel entgegen. So geriet der Wald auch ins Blickfeld der Loki Schmidt Stiftung.

Jene hat bereits in 14 Projektgebieten naturnahe Wälder erworben und sie so vor Abholzung und Zerstörung bewahrt. Die Flächen erstrecken sich vom Hartholz-Auenwald an der Elbe bis zum Buchenwald in Bayern. Aber auch in der Hansestadt Hamburg kann die Stiftung bald ein weiteres Gebiet ihr Eigentum nennen. Ein großzügiger Spender hat der Institution laut Angaben von Jahn erst kürzlich ein
13 Hektar großes Stück Land überlassen, welches direkt an der Alster liegen soll. Solche Großspenden sind aber eher eine Seltenheit. Die meisten Wälder müssen gekauft werden, so auch der Estebrügger Wald.

Die neuen und alten Besitzer gehen auf Erkundungstour: Axel Jahn (v.l.), Dörte Harms-Krüger mit ihrem Neffen Bo Willem Friedrichsen und Lena Holst.
Die neuen und alten Besitzer gehen auf Erkundungstour: Axel Jahn (v.l.), Dörte Harms-Krüger mit ihrem Neffen Bo Willem Friedrichsen und Lena Holst. © Mareike Domröse

Der Preis im sechsstelligen Bereich war für die Stiftung eigentlich nicht finanzierbar, das Projekt drohte damals zu scheitern. „Doch jede kleine Insel hat ein Recht auf Schutz“, betont Jahn und schiebt vorsichtig einige Äste während der Exkursion zur Seite. Mit dieser Einstellung rief sein Team im November 2021 im Jahresbericht der Stiftung, welcher an über 10.000 Privatadressen geliefert wird, zu einer großen Spendenaktion auf. Zahlreiche Kleinspender, aber auch andere Stiftungen wie die Heinz-Sielmann-Stiftung und die Stiftung Zukunft, beteiligten sich an der Aktion. Dank dieser zahlreichen Unterstützer und natürlich der Vorbesitzer, Familie Harms, gehört das größte zusammenhängende Waldgebiet im Alten Land nun zum Stiftungsland der Loki Schmidt Stiftung, welches man als wahrlich einzigartig betiteln kann.

Klimawandel: Naturbelassene Wälder gelten als anpassungsfähiger

Eine „Überlebensinsel“ inmitten der Flächen mit Obstbäumen, die durch das menschliche Eingreifen nur einen eingeschränkten Lebensraum darstellt. Dagegen bietet der Feuchtwald einen Kontrast, eine Art Puffer, für die Landschaft. Der Wald sei zwar nicht ökonomisch wertvoll, dafür sei aber der ökologische Wert unmessbar, betont Dörte Harms-Krüger. Durch das viele Totholz und die natürlichen Abfallprodukte hat sich ein fruchtbarer, lehmiger Boden entwickelt, durch den sich die verschiedenen Pflanzen ungehindert ausbreiten können und so viele ökologische Nischen für Tiere bieten.

Ebenso haben naturbelassene Wälder eine große aktuelle Bedeutung, da diese als anpassungsfähiger im Bezug auf den Klimawandel gelten und viel CO₂ binden können.

Ein Blick in das undurchdringliche Unterholz
Ein Blick in das undurchdringliche Unterholz © Loki Schmidt Stiftung

Damit diese Faktoren auch in Zukunft noch bestehen, soll das Gebiet für Menschen unzugänglich bleiben – eine geführte Exkursion wie an diesem Tag bleibt also eine Ausnahme. Für Jahn steht gerade bei diesem Fleckchen unberührter Natur die Prozessforschung im Vordergrund, die von Naturforschern durchgeführt werden soll.

Das Glück, den wilden Wald von Estebrügge in all seiner Pracht genießen zu dürfen, wird also auch zukünftig nur der Singdrossel vorbehalten sein.

Über die Stiftung:

  • Die Loki Schmidt Stiftung setzt sich deutschlandweit für den Schutz seltener Pflanzen und Tierarten, das Verstehen der Natur sowie den Erhalt der natürlichen Schönheit und Vielfalt ein.
  • Alles begann in den 1970er Jahren mit der Hamburgerin Hannelore „Loki“ Schmidt. Die Ehefrau des Bundeskanzlers Helmut Schmidt erwarb eine Wiese an der deutsch-belgischen Grenze, um ein Vorkommen Wilder Narzissen zu schützen. Mehr als ein halbes Jahrhundert später sind dieser kleinen Wiese knapp
    50 Naturschutzflächen in zehn Bundesländern gefolgt.
  • Diese „Überlebensinseln“ bieten neben Lebensräumen eine lebendige Wissensvermittlung durch besondere Naturerlebnisse. Weitere Infos unter loki-schmidt-stiftung.de