Sprötze. Erste geflüchtete Kinder aus der Ukraine schon im Unterricht. Schulen im Kreis Harburg zeigen, wie Integration funktioniert

Als sie das erste Mal in das Klassenzimmer der 3a kam, hatte Bozhena Angst. Angst vor den vielen fremden Kindern, Angst davor, dass niemand sie versteht, Angst, allein zu bleiben. Doch dann nahmen sie ihre Mitschüler in ihre Mitte, sangen für sie im Morgenkreis und richteten ihr einen Platz im Klassenzimmer ein, direkt neben Eleni. Die ist neun, wohnt in Sprötze und hat Spaß daran, zu helfen. Jetzt ist sie Bozhenas Lernpatin. „Sie ist empathisch, kann mitreißen“, sagt Lehrerin Franziska Lohmann. „Also habe ich sie gebeten, sich um Bozhena kümmern.“

Bozhena kommt aus der Ukraine. Als der Krieg begann, floh sie mit ihrer Mutter und ihrer großen Schwester nach Deutschland. Ihr Vater blieb zurück in der Heimat. „Die Belastung für die Familie ist groß“, sagt Schulleiterin Barbara Findeklee-Walter. „Oft weinen die Mütter, wenn sie ihr Kind bei uns anmelden.“ Drei Mädchen hat die Grundschule bereits aufgenommen. In der kommenden Woche folgen drei weitere.

Aufnahmegespräche an fast allen Schulen im Landkreis Harburg

Aufnahmegespräche laufen derzeit an fast allen Schulen im Landkreis Harburg. So hat die OBS Jesteburg aktuell drei ukrainische Schülerinnen und Schüler aufgenommen, zwei weitere sind angekündigt. An der Oberschule Rosengarten sind vier gestartet, weitere sieben sollen folgen. An der Sonnenschule Bendestorf sowie an der Grundschule Steinbeck werden zwei Kinder aus der Ukraine beschult, an der Mühlenschule Holm-Seppensen sind es fünf, in Klecken ein Kind. Das Albert-Einstein-Gymnasium in Buchholz hat fünf Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, das Gymnasium Winsen sechs und die Grund- und Oberschule am Ilmer Barg in Winsen zehn Kinder.

Bozhena (2.v.l.) mit ihren neuen Mitschülern an der Grundschule Sprötze-Trelde. Die Neunjährige floh mit Mutter und Schwester aus der Ukraine.
Bozhena (2.v.l.) mit ihren neuen Mitschülern an der Grundschule Sprötze-Trelde. Die Neunjährige floh mit Mutter und Schwester aus der Ukraine. © HA | Hanna Kastendieck

Die Schulen rechnen damit, dass es noch viele mehr werden. Denn: Jedes Kind ab sechs Jahren soll, sobald die Familie einen sogenannten Aufenthaltsstatus besitzt, also im Landkreis Harburg bleiben und wohnen kann, hier vor Ort eine Schule besuchen können. Vielmehr muss es das sogar, denn es besteht Schulpflicht.

Wie diese umzusetzen ist, bleibt den Schulen überlassen. „Wir befinden uns in einer hochdramatischen Lage“, sagt Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne. „Die aktuelle Situation ist schwer einschätzbar und benötigt von allen Beteiligten höchste Flexibilität.“ Aktuell sind laut Kultusministerium an den niedersächsischen Schulen rund 2665 geflüchtete ukrainische Schülerinnen und Schüler gemeldet. „Nicht alles kann nach Schema F ablaufen“, so Tonne. Vielmehr brauche es pragmatische Lösungen vor Ort. Es gelte, im Sinne der Kinder und Jugendlichen flexible und umsetzbare Lösungen zu finden.“

Landrat rechnet mit 4000 Neubürgern

Das sieht auch Landrat Rainer Rempe so, dessen Verwaltung allein in den kommenden vier Wochen mit 4000 Registrierungen ukrainischer Bürger rechnet. „In den Schulen muss improvisiert werden“, sagt er. „Es muss darum gehen, für die Kinder und Jugendlichen ein Stück Normalität herzustellen.“ Das Land Niedersachsen müsse dabei unterstützen. „Wir werden Dolmetscher benötigen, uns um das Thema Sprache kümmern müssen“, so Rempe. „Wir brauchen Spielräume, Flexibilität und Ideen.“

Davon haben die Schulen eine ganze Menge. So helfen am Gymnasium Hittfeld Eltern mit russischen oder ukrainischen Sprachkenntnissen bei der Anmeldung. Fünf Schülerinnen und Schüler nehmen bereits am Unterricht teil, sechs weitere Anmeldungen stehen bevor, „Wir versuchen die Kinder in Klassen unterzubringen, in denen Mitschüler russisch sprechen können“, sagt die stellvertretende Schulleiterin Dorothea Drewes. Das erleichtere die Eingliederung enorm.

Deutsch als Zweitsprache

Zudem nehmen die neuen Mitschüler am Angebot „Deutsch als Zweitsprache“ teil. Das Gymnasium Tostedt hat mit den drei Schulen des Schulzentrums für die Flüchtlingsfamilien ein Infoschreiben in ukrainischer, russischer und deutscher Sprache erstellt, das über schulische und pädagogisch-psychologische Angebote am Schulstandort informiert. Das Gymnasium Meckelfeld will in Kooperation mit der Oberschule im Seevetal eine Sprachlernklasse einrichten, hat russische Schüler zwecks Übersetzungsarbeit eingebunden.

Barbara Findeklee-Walter leitet die Grundschule Sprötze-Trelde
Barbara Findeklee-Walter leitet die Grundschule Sprötze-Trelde © HA | Hanna Kastendieck

Die IGS Winsen-Roydorf hat Sachspenden für den Schulstart gesammelt, eine Willkommensklasse eingerichtet, die von einer pädagogischen Mitarbeiterin, Schulsozialarbeiterinnen und einer Bufdi betreut wird. Hier sollen die neuen Schüler ankommen können, bevor sie in eine reguläre Klasse wechseln. „Am Herzen liegt uns insbesondere, den Schülern aus der Ukraine eine Struktur und einen sozialen Rahmen zu geben“, sagt Schulleiterin Bianca Schmitz. „Wir sehen alles als Herausforderung, nehmen diese aber gerne an, da wir helfen wollen.“

Genau darum geht es auch Eleni, Emma und Ella, Hanna, Ruben und Inga sowie den vielen Kindern, die sich an der Grundschule Sprötze-Trelde um Bozhena und die anderen neuen Mitschülerinnen kümmern. Für sie sind die Mädchen schon wenige Tage nach Ankunft keine Fremden mehr. Sie wissen, dass Bozhena eine Katze hat, gerne Memory spielt und Salzstangen mag. „Genau wie wir“, sagen Eleni und Ella. Und sie können sich vorstellen, was ihre neue Freundin am meisten beschäftigt. „Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich Angst, dass mein Zuhause zerstört wird, dass ich keine Freunde finde und meinen Vater nie wiedersehe“, sagt Ole. Die anderen Kinder nicken. Dann laufen sie raus auf den Schulhof. Es ist Pause. Zeit zum Spielen.