Lüneburg. Psychiatrische Klinik Lüneburg stellt sich auf Behandlung von Ukrainern ein. Chefarzt rät Helfern zu Selbstfürsorge.

Kliniken unter Beschuss, brennende Wohnhäuser, Familien, die nächtelang in U-Bahnstationen ausharren – die Bilder aus der Ukraine rufen bei vielen Menschen in Deutschland Sorgen und Ängste hervor. Bei den Geflüchteten aus dem Kriegsgebiet können die grauenvollen Erlebnisse auch Traumata auslösen. Darauf stellt sich die Psychiatrische Klinik Lüneburg (PKL) ein.

Dort sind die Fallzahlen zwar bisher nicht erhöht. Nach drei Wochen Krieg geht es zunächst um die Grundversorgung der Geflüchteten. Viele Menschen flüchten zudem eher in die Großstädte zu Freunden und Verwandten. Dennoch bereite man sich auf die Behandlung Geflüchteter vor und stehe in Kontakt mit der Stadt, sagt Dr. Marc Burlon, Ärztlicher Direktor der PKL, Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie und Trauma-Experte „Die Klinik ist für die psychosoziale Versorgung dieser Menschen gut aufgestellt, wir sind bereit und stecken in den Startlöchern.“

Trauma-Experten bauen auf Erfahrungen mit Flüchtlingen seit 2015

Ein Grund für die gute Vorbereitung sind die Erfahrungen mit den Flüchtlingen, die vor allem 2015 aus insbesondere aus Syrien, Afghanistan und Irak nach Deutschland kamen. Daraufhin seien so wichtige Voraussetzungen wie ein Netz aus Dolmetschern geschaffen worden, sagt Burlon. Seitdem habe sich nicht aber nur die Versorgungsstruktur deutlich verbessert und die Fachexpertise vergrößert. „Geändert hat sich auch das Bewusstsein dafür, dass wir es mit akut traumatisierten Menschen aus einem Kriegsgebiet zu tun haben.“

Ein Trauma entsteht durch ein einmaliges Erlebnis, zum Beispiel einen Autounfall, eine Vergewaltigung oder einen Vulkanausbruch. Viel stärker noch als eine Naturkatastrophe wirke ein menschengemachtes Ereignis, erklärt Burlon. Der Krieg bringe daher ein besonderes Risiko für Traumata mit sich. „Bombeneinschläge sind solche singulären Ereignisse, ebenso die Trennung vom Partner an der Grenze.“ Nicht jeder Mensch wird dadurch traumatisiert. Bei einigen jedoch setzen sich die Bilder des Erlebten im Kopf fest – und können jederzeit mit überwältigender Kraft hervorkommen.

Mobile Teams sollen Geflüchtete in Unterkünften beraten und Therapiebedarf klären

Was genau in den kommenden Wochen und Monaten passieren wird, wie viele Geflüchtete nach Deutschland und in die Region kommen, welche psychologische und psychiatrische Hilfe sie benötigen werden – all dies kann im Moment noch niemand vorhersagen. Burlon spricht von einem „Blick in die Glaskugel“, man müsse auf verschiedene Szenarien vorbereitet sein.

Er rechnet damit, dass sich zuerst in den Flüchtlingsunterkünften zeigen wird, wenn Menschen professionelle Hilfe benötigen. Wenn erforderlich, werde in der Klinik eine spezielle Sprechstunde eingerichtet. Gute Erfahrungen habe man bereits mit Beratungsangeboten in den Unterkünften gemacht, sagt der Psychiater. „Dort kann zuerst einmal geklärt werden, wer eine Therapie braucht. Manchen Menschen, die sich zum Beispiel Sorgen um Verwandte machen, ist mit psychosozialer Beratung mehr geholfen.“ Neben der Filterfunktion übernehmen solche mobilen Teams auch die Aufgabe, die Hemmschwelle, sich Hilfe in der Psychiatrie zu holen, niedrig zu halten.

Traumatherapie hat gute Erfolgsaussichten – Patienten reden über Erlebtes

In einer ambulanten oder stationären Therapie lernen die traumatisierten Menschen, das Erlebte nicht zu verdrängen, sondern trotz des Traumas ins Leben zurückzufinden. Das Darübersprechen sei eine sehr wirksame Form der Verarbeitung, betont Burlon. „Reden ist in dem Fall Gold. Durch das Erzählen machen die Patienten die Erfahrung, dass das traumatische Erlebnis nicht zu ihrer gegenwärtigen Lebenswelt gehört. Es ist Teil der Vergangenheit.“ Eine Therapie habe gute Erfolgsaussichten – auch wenn das Trauma bereits Jahrzehnte zurückliegt – und es brauche dafür oft nur etwa zehn Sitzungen.

Dabei steht das Trauma zwar am Anfang der Behandlung, Ziel aber ist eine eigenständige Bewältigung des Alltagslebens. „Wir behandeln keine Traumata, sondern die daraus entstehenden Symptome wie Ängste, Depressionen oder eine posttraumatische Belastungsstörung“, sagt Burlon. Generell könne die Zeit durchaus eine gewisse Selbstheilung mit sich bringen. Bei Kriegstraumata sei es jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Symptome nicht von allein weggehen.

Posttraumatische Belastungsstörung kann Symptom nach Traumatisierung sein

Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) betrifft häufig Menschen aus Kriegsgebieten und äußert sich auf unterschiedliche Weise. „Die Menschen haben zum Beispiel große Ängste, sie können nicht schlafen, sind in sich gekehrt oder schreckhaft und suchen die Schuld bei sich“, beschreibt der Trauma-Experte das Krankheitsbild. Auch ein sehr pessimistisches Weltbild und Suizidgedanken zählten dazu. Wer solche Anzeichen bei Geflüchteten bemerkt, sollte sie jedoch nicht zum Erzählen drängen, betont Burlon. „Wichtig ist es, ein offenes Ohr zu haben, vor allem wenn es um Fragen nach Sicherheit und Menschlichkeit geht.“

So richtig und wichtig die Fürsorge für andere jetzt sei – grundsätzlich sollten Helfer sich nicht selbst überfordern, auf ihre eigene psychische Gesundheit achten und sich möglichst einer professionellen Hilfsorganisation anschließen, sagt der Chefarzt. „Wir erleben gerade eine große Hilfsbereitschaft vieler Menschen in Europa und ich ziehe den Hut vor allen Helfern, die jetzt Flüchtlinge aufnehmen. Aber als Laie ist es gar nicht so einfach einzuschätzen, was man leisten kann und was nicht.“

Helfer sollen sich miteinander vernetzen und auf sich selbst achten

Das professionelle Hilfesystem sei gerade in Norddeutschland sehr gut aufgestellt, sagt Burlon. In Kliniken und bei niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten sind nicht nur traumatisierte Geflüchtete gut aufgehoben, sondern auch Menschen, die psychisch unter der derzeitigen Situation leiden – sei es, weil sie mit Geflüchteten arbeiten, selbst Krieg miterlebt haben oder von den Nachrichten aus der Ukraine überwältigt werden.

Der Trauma-Experte geht davon aus, dass sich Sorgen und Ängste verstärken werden. „Unsere ganze Gesellschaft ist in einem neuen Status von Verunsicherung. Das was als normal galt und uns Sicherheit gab, wird gerade komplett infrage gestellt. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir mit diesem Phänomen noch lange zu tun haben werden.“

Netzwerk für Geflüchtete bietet Telefonberatung für Pädagogen

Das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen (NTFN) bietet medizinische, psychologische, sozialpädagogische und rechtliche Unterstützung für Geflüchtete. Zum Angebot zählen Behandlungen sowie die Vermittlung von Therapieplätzen und Dolmetscherdiensten. Es werden Fortbildungen angeboten und es gibt eine Telefonsprechstunde für pädagogische Fachkräfte, Telefon 0541/66 89 66 15 (mittwochs 12 bis 13 Uhr).

Das Psychosoziale Zentrum (PSZ) Lüneburg ist Teil des Netzwerks, ebenso gibt es Angebote in Hannover, Göttingen, Oldenburg, Cuxhaven, Osnabrück und Braunschweig. Weitere Informationen auf www.ntfn.de.