Landkreis Harburg. Oberschüler werden von weiterführenden Schulen abgelehnt, weil Plätze fehlen. Modellversuch soll Abhilfe schaffen

Das Szenario ist eigentlich unvorstellbar, aber im Landkreis Harburg seit Jahren für viele Schülerinnen und Schüler der Oberschulen bittere Realität: Die Jugendlichen schließen die zehnte Klasse erfolgreich ab. Sie bekommen qua Zeugnis eine Empfehlung für die Oberstufe.

Sie wählen eine Schule, die sie bis zum Abitur bringen soll – und: werden abgelehnt. Weil es dort für sie keinen Platz gibt. Allein in diesem Jahr, das lässt sich aus den Wartelisten-Nummern der weiterführenden Schulen im Landkreis Harburg errechnen, sind mindestens 81 Schülerinnen und Schüler abgelehnt worden und haben einen Wartelistenplatz für ein weiterführende Schule erhalten.

Ratsfrau in Jesteburg: "Dieser Zustand ist ein Desaster"

„Das sind 81 junge Menschen, die sich zehn Jahre lang in der Schule angestrengt haben, um die gymnasiale Oberstufe zu erreichen und nun gerne ihr Abitur in drei Jahren machen möchten“, sagt Nathalie Boegel. „81 Jugendliche, die sich jetzt irgendwo einen Platz ‚ergattern‘ müssen, möglicherweise lange Fahrtzeiten in Kauf nehmen, an einer Schule landen, die nicht ihrer Wahl entspricht oder eventuell gar nach Hamburg ausweichen.“

Für Nathalie Boegel, Ratsfrau in Jesteburg und langjährige Leiterin des Schulausschusses in der Samtgemeinde, ist dieser Zustand ein Desaster. Und ein Fakt, der in der aktuellen Schulentwicklungsdebatte im Landkreis Harburg, eigentlich den größten Sprengstoff in sich trägt.

Enttäuschung und Demotivation

Denn: Wenn nicht – zeitnah – mehr Oberstufenplätze für abgehende Schüler der Oberschule geschaffen werden, bleibt den jungen Menschen die Chance auf gute Bildung verwehrt. „Welche Enttäuschung und Demotivation erleben die Jugendlichen und ihre Familien?“, fragt sich Nathalie Boegel. „Was sagt das über den Bildungsstandort im Landkreis Harburg aus.“ Es brauche dringend weitere Oberstufenplätze.“ Und zwar an Schulen, die die Schüler wollen – also an IGSen und Gymnasien.

Auch aus Hanstedt kamen die Befürworter einer IGS vor das KreistagsgebäudeBiekerHA
Auch aus Hanstedt kamen die Befürworter einer IGS vor das KreistagsgebäudeBiekerHA © HA | Bieker

Es braucht also mehr weiterführende Schulen. Dafür kämpfen viele Eltern seit Jahren. Sie wollen den Ausbau der Oberschulen in Integrierte Gesamtschulen (IGS), eine „Schule für alle“, Chancengleichheit und dass ihre Kinder vor Ort eine Schule bis zum Abitur besuchen können, anstatt mit dem Bus quer durch den Landkreis fahren zu müssen.

Besonders groß ist der Wunsch nach Umwandlung der bestehenden Oberschulen in eine IGS in den Samtgemeinden Hollenstedt und Hanstedt, in Jesteburg und der Gemeinde Rosengarten – also den Kommunen rund um Buchholz. Dort liegt mit der IGS Buchholz die einzige Integrierte Gesamtschule im Beritt. Und diese hat seit Jahren mehr Anmeldungen als Plätze, muss deshalb viele Bewerber ablehnen. Sie landen auf der Oberschule, obwohl sie einen anderen Schulwunsch hatten. Um ihrer Forderung Gewicht zu verleihen, haben die Eltern Bürgerinitiativen und Arbeitsgruppen gegründet, Unterschriften gesammelt und vor dem Kreistagsgebäude demonstriert (wir berichteten).

Nur drei der elf Oberschulstandorte können umgewandelt werden

Doch eine Umwandlung aller Oberschulen in IGSen wird es flächendeckend nicht geben können. Das hat die Politik jetzt entschieden und folgt damit einer Empfehlung der Arbeitsgruppe „Schulentwicklungsplan“ (SEP). Diese hat in den vergangenen zwei Jahren die vorhandenen Strukturen in der Schullandschaft im Landkreis untersucht und Empfehlungen für die Entwicklung erarbeitet. Den Berechnungen der SEP nach können nur drei der elf Oberschulstandorte in IGSen umgewandelt werden, da die Schülerzahlen nicht ausreichen. Denn: Zur Gründung einer IGS bedarf es der Vierzügigkeit. Das heißt: Jeder Jahrgang muss mindestens 96 Schüler haben.

Zu den nun ausgewählten Oberschulen, die für eine Umwandlung vorgesehen sind, gehören die Oberschulen in den Samtgemeinden Hollenstedt, Hanstedt und Elbmarsch. Der Kreisschulausschuss hat dazu am Donnerstag eine Beschlussempfehlung abgegeben. Diese sieht vor, dass an den drei betroffenen Standorten eine Elternbefragung durchgeführt werden soll. Befragt werden sollen Erziehungsberechtigte, deren Kinder das letzte Kindergartenjahr und die Jahrgangsstufen 1 bis 3 in den Grundschulen besuchen. Mit der Befragung wird die Firma biregio „Projektgruppe Bildung Region“ beauftragt.

Darüber hinaus soll die Arbeitsgruppe „Schulentwicklung“ auch den fortlaufenden Prozess des bedarfsgerechten Umbaus der Schulstruktur im Landkreis Harburg begleiten. Und: Die Verwaltung wird gebeten, eine weitere Arbeitsgruppe einzurichten. Diese soll sich mit der Entwicklung der Berufsbildenden Schulen (BBS) im Landkreis Harburg beschäftigen, Konzepte entwickeln, die das Angebot stärken. Dort sollen vor allem die Oberschüler nach der zehnten Klasse die Möglichkeit finden, das Abitur zu machen. „Es gibt ungenutzte Potenziale an der BBS“, sagt Stefan Niemann, der die Arbeitsgruppe „Schulentwicklungsplan“ als Moderator begleitet hat. „Die Chancen für das Abitur an den beiden BBS müssen daher verstärkt aufgezeigt werden.“ Denkbar wäre die Einrichtung eines Campus Berufsorientierung exklusiv für die Schüler der Oberstufen, so Niemann. Die Idee sei in keiner Weise ausdefiniert, könne aber möglicherweise später in der Debatte um die Schulstruktur helfen.

Debatte wird in den kommenden Monaten weitergeführt

Diese Debatte wird in den kommenden Monaten weitergeführt werden müssen. Denn sowohl in der Gemeinde Rosengarten wie auch in der Gemeinde Neu Wulmstorf fühlen sich die Beteiligten übergangen, fordern, das auch dort eine Elternbefragung zur Umwandlung der Oberschule in eine IGS durchgeführt wird. „Die Standorte dürfen nicht unabhängig voneinander gesehen werden“, sagt Tobias Handtke, Bürgermeister der Gemeinde Neu Wulmstorf. „Die Entwicklung einer IGS darf nicht in Hollenstedt ODER Neu Wulmstorf vorangebracht werden, sondern gleichzeitig.“ Keine Oberschule dürfe benachteiligt werden. Das sieht auch Mirja Vogel so. Die Mutter von vier Kindern engagiert sich gemeinsam mit anderen Eltern für eine IGS Rosengarten, hat inzwischen im Rahmen einer Online-Petition mehr als 1000 Unterschriften gesammelt. „Es ist unfair, wenn wir in Rosengarten nicht befragt werden“, sagt sie.

Für die vielen Zehntklässler der Oberschulen, die trotz Oberstufenempfehlung aktuell keinen Platz auf einer weiterführenden IGS bekommen, muss allerdings eine schnelle Lösung her. Diese könnte mit der Einrichtung einer Oberstufe an der OBS Jesteburg als Modellversuch geschaffen werden. Die CDU/FPD hat dazu einen Antrag eingebracht. Er wurde Kreistag verschoben. Dieser entscheidet am 30. März.