Landkreis Harburg. Weil es zu wenig Plätze gibt, will die Politik Oberschulen zu IGSen umwandeln. Aber nicht alle Anwerber sollen Zuschlag bekommen
Wenn am kommenden Mittwoch der Kreisschulausschuss in Winsen tagt, werden sie kommen. Die Mütter und Väter aus dem Landkreis Harburg, die genug haben von einer unfairen Schullandschaft, ungerechten Bildungschancen und einer Politik, die die Augen vor den Wünschen der Betroffenen verschließt.
Sie werden Plakate mitbringen und laut sein für ihre Kinder. Eltern aus Hollenstedt und Hanstedt, Jesteburg und der Gemeinde Rosengarten kämpfen für die Integrierte Gesamtschule (IGS). Sie fordern, dass die Oberschulen in den Gemeinden und Samtgemeinden umgewandelt werden. Denn nur dann wird künftig jedes Kind im Landkreis Harburg die Chance bekommen, wohnortnah eine weiterführende Schule bis zum Abitur zu besuchen.
Im Landkreis Harburg gibt es drei Integrierte Gesamtschulen
Bislang ist das nicht möglich. Es gibt im Landkreis drei IGSen. Und diese sind voll. Übervoll. Jedes Jahr gibt es mehr Anmeldungen als Plätze zur Verfügung stehen. Damit können die Schulwünsche vieler Viertklässler im Landkreis nicht erfüllt werden. Die Kinder müssen entweder bereit sein, lange Wege mit dem Schulbus in Kauf zu nehmen oder sich für eine andere Schulform entscheiden.
Wie dramatisch die Situation ist, zeigt das Beispiel IGS Buchholz. Die 2010 gegründete Schule musste im Schuljahr 2021/22 von 342 angemeldeten Schülerinnen und Schülern 196 ablehnen, darunter 78 Kinder aus Buchholz. Auch an der IGS Winsen/Roydorf gab es im vergangene Jahr mehr Anmeldungen als verfügbare Plätze. Und auch an der IGS Seevetal mussten in der Vergangenheit immer wieder Kinder abgelehnt werden und sich eine andere weiterführende Schule suchen.
Für die Eltern ein unhaltbarer Zustand. „Seit Jahren fordern wir in der Politik eine Schule für alle vor Ort, die bis zum Abitur führt“, sagt Claudia Heins. „Es kann doch nicht sein, dass Kinder, die eine IGS besuchen wollen, entweder mit dem Schulbus quer durch den Landkreis gefahren werden oder, wenn sie keinen IGS-Platz bekommen, eine Schule besuchen müssen, auf die sie gar nicht gehen wollen.“ Genau dieses Szenario aber sieht die Mutter jetzt auf ihren achtjährigen Sohn zukommen. Auch deshalb hat sie im vergangenen Jahr gemeinsam mit Eltern in Hollenstedt eine Bürgerinitiative gegründet, die sich für die Umwandlung der Oberschule in eine IGS einsetzt. Der Rückhalt ist groß. Eine Befragung von 500 Müttern und Vätern ergab, dass 97,7 Prozent sich eine Umwandlung der Oberschule in eine IGS wünschen.
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Auch in Jesteburg, Hanstedt und der Gemeinde Rosengarten haben sich Eltern zum Protest zusammengeschlossen. Denn auch dort müssen sich bis zu Dreiviertel der Grundschüler nach der fünften Klasse eine weiterführende Schule außerhalb der Gemeinde suchen. Statt kurzer Schulwege zu Fuß oder mit dem Rad müssen sie oft viele Kilometer und Stunden am Tag mit dem Bus zurücklegen, verlieren wertvolle Zeit zum Spielen und Leben und erzeugen dem Landkreis Fahrkosten in Millionenhöhe.
„Allen Kindern ein Lernenvor Ort ermöglichen!“
Ein Zustand, den die Eltern so nicht mehr hinnehmen wollen. „Statt Kinder an nahe gelegenen Standorten zu integrieren, reißt man sie aus ihrer sozialen Gemeinschaft, um sie an zuständige Schulen zu karren“, ärgert sich Mirja Vogel, die gemeinsam mit Betroffenen die Initiative „IGS Rosengarten - Wir sagen ja!“ gegründet hat. Das sei weder nachhaltig, noch kindgerecht und sozial. Statt auf einen „bunten Strauß an Schulformen“ zu pochen, sollte sich die Schullandschaft im Landkreis Harburg dahin entwickeln, allen Kindern ein Lernen vor Ort zu ermöglichen – und zwar in Integrierten Gesamtschulen, als Schule für Alle. „Eine Schullandschaft nur als Gymnasien und IGSen hat sich bewährt. In Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein geht man erfolgreich diesen Weg“, so Mirja Vogel. „Warum also nicht auch im Landkreis Harburg?“
Um ihren Forderungen Stimme zu verleihen, wollen die Initiativen am kommenden Mittwoch mit möglichst vielen Eltern und Kindern vor dem Kreistagsgebäude in Winsen demonstrieren. Dort stellt die eigens eingerichtete Arbeitsgruppe „Schulentwicklungsplanung“ ihre Ergebnisse vor. Nach Abendblatt-Informationen sollen drei neue IGSen im Gespräch sein. Eine Umwandlung aller Oberschulen im Landkreis ist in der Schulentwicklungsplanung nicht vorgesehen. Das bedeutet: Von den vier Oberschulen, die sich zur IGS umwandeln möchten, wird vermutlich mindestens eine auf der Strecke bleiben.
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Das aber wäre ungerecht und für die betroffene Schule möglicherweise fatal. Da sich die meisten Eltern für ihre Kinder eine IGS wünschen, würden bei ausreichenden Plätzen automatisch die Anmeldezahlen an der Oberschule weiter zurückgehen. Eine Sorge, die auch Oliver Wozniok teilt. Er leitet die Oberschule Rosengarten (ROGA) in Nenndorf. „Wir würden sicherlich Schüler verlieren, wenn das Angebot an IGSen um uns herum größer werden wird“, befürchtet Oliver Wozniok. Er bedauert allerdings, dass die noch recht junge Oberschule nicht den Ruf habe, den sie verdiene. „Oberschulen gibt es erst seit zehn Jahren“, sagt er. Man habe einfach noch nicht lang genug zeigen können, wie gut das Konzept funktioniere. „Was viele Eltern nicht wissen, ist, dass wir in vielen Bereichen schon jetzt ähnlich wie eine Integrierte Gesamtschule arbeiten“, so Wozniok. „An der ROGA haben wir jahrgangsbezogene Klassen und feste Lerngruppen. Zudem bieten wir einen gymnasialen Zweig an, der nach erfolgreichem erweiterten Realschulabschluss in eine IGS oder ans Gymnasium weiterführt.“ Wer das Abitur machen wolle, müsse allerdings nach der 10. Klasse die Schule wechseln.
Viele Eltern wollen für ihre Kinder eine Schule für alle
Genau das aber wollen viele Eltern für ihre Kinder nicht. Sie wollen eine Schule für alle, die alle Möglichkeiten bietet und die Kinder nicht aus ihrem Umfeld reißt. In einem offenen Brief, den Mirja Vogel von der Initiative „IGS Rosengarten - Wir sagen Ja!“ geschrieben hat, fordert sie die Eltern im Landkreis auf, am kommenden Mittwoch vor dem Kreistagsgebäude Gesicht zu zeigen und laut zu sein für die Bildung ihrer Kinder. In ihrem offenen Brief erhebt die Mutter von vier Kindern das Wort für alle Eltern, für alle Kinder - nicht nur für ihre eigenen: „In einer Welt voll Kummer und Sorgen, in Zeiten von Hass und Krieg, müssen wir unsere Kinder mehr stärken denn je“, schreibt sie. „Wir müssen sie lehren, zusammenzuhalten, aufeinander Rücksicht zu nehmen und Vertrauen zu haben in die Kraft der Gemeinschaft. Das Glück unserer Kinder hängt nicht davon ab, welchen Bildungsweg sie gehen, sondern von der Möglichkeit sich selbst zu finden. Dazu braucht es keine überfüllten Schulbusse, sondern Zeit, Sicherheit und Vertrauen!“