Lüneburg. Erste „Vesperkirche“ lockt neues Publikum ins Gotteshaus. Was Tätowierungen mit dem christlichen Glauben zu tun haben.

Susanne Born ist an diesem Tag die Erste, die sich in einem Gewölberaum der Lüneburger St. Michaeliskirche tätowieren lässt. Die 48-Jährige hat sich ein Motiv ausgesucht, das künftig die rechte Schulter zieren soll. Tätowierer Felix von Clewe schreitet zur Tat. Dort, wo sonst die Predigten gehalten und in Andacht gebetet wird, summt es nun – von der Nadel, die in die Haut gestochen wird.

Möglich ist das aufgrund der „Vesperkirche“, die die hiesige Kirchengemeinde in den vergangenen Tagen ausgerufen hat. Das Konzept der Vesperkirche ist vor rund 25 Jahren in Stuttgart entstanden. Die Grundidee: ärmeren Menschen in einem würdigen Rahmen eine günstige oder kostenlose Mahlzeit anzubieten und darüber hinaus alle Milieus im Stadtteil an einer Tafel miteinander ins Gespräch zu bringen. Seither sind laut dem Theologen und Mitbegründer Martin Dorner deutschlandweit Dutzende Vesperkirchen entstanden, die den Grundgedanken aus Stuttgart um eigene kreative, politische und spirituelle Akzente ergänzen.

Tattoo- und Piercingstudio ist in Lüneburg ein Teil der Vesperkirche

In Lüneburg ist ein Teil der ersten Vesperkirche eben auch das Tattoo- und Piercingstudio. Tätowierer Felix von Clewe und seine Kolleginnen vom Studio Silbermond piercen und tätowieren kostenlos die Kirchenbesucher. „Wir haben eine kleine Auswahl an Motiven mitgebracht. Das am häufigsten gewählte Motiv sind Rosen“, berichtet Clewe, während er in dem engen und wuseligen Raum zwischen Taufbecken und Kruzifix erneut die Tattooliege bezieht. Über mangelnde Nachfrage kann er sich hier nicht beschweren. Die Wartezone ist bis auf den letzten Platz gefüllt.

Friseurin Inga Mänz wird von ihrem Sohn Jona unterstützt. .
Friseurin Inga Mänz wird von ihrem Sohn Jona unterstützt. . © Andre Lenthe Fotografie

Auch Friseurin Inga Mänz (36), die im Pfarrhaus ihre Kämme schwingt und die Schere um die Köpfe kreisen lässt, ist gut beschäftigt. Zehn „Kunden“ hat sie in rund zwei Stunden eine neue Frisur verpasst. Normalerweise arbeitet sie für den Friseursalon „Sculps“ in Lüneburg. „Als die Organisatoren der Diakonie bei der Arbeit angefragt haben, da habe ich direkt zugesagt“, so die engagierte Frau, „Es ist eine tolle Aktion.“

St. Michaelis-Pastorin Silke Ideker und Michael Elsner von der Diakonie.
St. Michaelis-Pastorin Silke Ideker und Michael Elsner von der Diakonie. © Andre Lenthe Fotografie

Ein beeindruckendes Programm haben Gemeindepastorin Silke Ideker und Michael Elsner von der Lebensraum Diakonie gemeinsam mit unzähligen Helferinnen und Helfern auf die Beine gestellt. Ein ärztlicher Gesundheitscheck für Mensch und Tier, ein Reparaturservice für alte Technikgeräte, Kunstaktionen und warme Speisen wie ein arabisches Büfett oder Lasagne – um nur einiges zu nennen. Abends gibt es Livemusik regionaler Künstler wie Janice Harrington und Werner Gürtler, dem Singersongwriter Ben Boles und mit dem Chor GospelVoices aus Embsen.

Vesperkirche soll unterschiedliche Menschen an einem Ort zusammen

„Vesperkirche bedeutet: Menschen, die sich sonst nicht begegnen, kommen an einem Ort zusammen, um miteinander zu reden, zu essen, etwas zu erleben, was sie sonst nicht erleben“, beschreibt es die Gemeinde St. Michaeliskirche auf ihrer Internetseite treffend.

Julia Pluskwa vom Lebensraum Diakonie arbeitet an einem der Stände während der Vesperkirche mit Leder.
Julia Pluskwa vom Lebensraum Diakonie arbeitet an einem der Stände während der Vesperkirche mit Leder. © Andre Lenthe Fotografie

Gerade nach Corona ist das offensichtlich noch wichtiger. Denn als die Kirchentüren sich an diesem Tag um 16 Uhr öffnen, steht bereits eine Menge vor der Tür und bittet um Einlass. Jeder Gast muss sich anmelden. Wer noch nicht geimpft ist, konnte es an zwei Tagen in der Kirche nachholen. Zunächst werden Ungeimpfte allerdings in einer mobilen Teststation getestet, Geimpfte und Genesene dürfen direkt hinein. Danach sind die 17 Stände die Anlaufstellen für die Besucher.

„Ich habe die Idee aus Süddeutschland mitgebracht und sie vor drei Jahren mit dem Gemeindevorstand und einigen Mitorganisatoren besprochen und weitergedacht“, sagt Diakoniechef Michael Elsner. „Wir mussten aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen, haben aber an die Idee geglaubt, auch als wir die Vesperkirche mehrfach wegen Corona verschieben mussten“, so Pastorin Silke Ideker. „Überall, wo wir angefragt haben, sind wir sofort auf offene Ohren gestoßen, die Hilfsbereitschaft ist überwältigend.“

Niemand muss seine Bedürftigkeit in der Kirche nachweisen

Das Schönste sei, dass Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und verschiedenen Glaubens zusammenkommen. Niemand müsse eine Bedürftigkeit nachweisen. „Es kommen gutbürgerliche Gemeindemitglieder, gemeinsam mit Muslimen oder Menschen aus der Obdachlosenherberge zusammen“, ergänzt Pastorin Ideker. „Das ist es doch, was Kirche ausmacht.“

Mehr als 100 Helferinnen und Helfer hätten die Vesperkirche möglich gemacht. Und während die Porträtfotografin und andere Helfer ihr Equipment zusammenpacken, finden sich die Kirchenbesucher zusammen und genießen einen deftigen Gemüseeintopf.