Hamburg/Braunschweig. Vor der Expo 2000 in Hannover tobt in Braunschweig ein Krieg im Rotlichtmilieu. Hamburger Zuhälter lassen Kontrahenten umbringen.
Die ersten Zeitungsfotos zeigen den 17-jährigen Elef 1984 beim Posieren auf der Tanzfläche. Fröhlich lacht er in die Kamera. Die dunklen Locken fallen ihm in die Stirn, über der Oberlippe sprießt ein Bart, er trägt Turnschuhe und Bundfaltenhose. Hinter ihm drängt sich ein junges Publikum. Der griechischstämmige Jugendliche ist mit seiner Gruppe gerade deutscher Meister im Breakdance geworden.
14 Jahre später, im Juli 1998, ein anderes Bild: Polizeibeamte beugen sich auf der Autobahn 395 zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel über ein Mordopfer am Straßenrand. Daneben im Gebüsch ein weinroter Fiat. Die Räder zeigen nach oben. Der Wagen ist von der Straße abgekommen und hat sich überschlagen, als den Fahrer Elefterios V., Spitzname Elef, an der Anschlussstelle Stöckheim während der Fahrt die tödliche Kugel traf. „Erstes Todesopfer im Zuhälterkrieg“ lautet die Schlagzeile über dem Foto. Elef wurde 32 Jahre alt.
Mord an Elefterios V.: Er wurde als umgänglicher Mensch beschrieben
Zuhälter, dieses Wort vermeidet der damalige Staatsanwalt Detlef Stockhaus. Richtig sei, dass Elefterios V. in zwei Bordellen auf der Braunschweiger Bruchstraße Zimmer vermietet habe. In Wolfenbüttel betrieb er außerdem zwei griechische Restaurants. Wie er ins Rotlichtmilieu geriet, darüber steht nichts in der 100-seitigen Anklage, die Stockhaus gegen die mutmaßlichen Mörder verfasste. Es sollte sein größtes Verfahren mit mehr als 150 Zeugen werden. Anderthalb Jahre dauerte der Indizienprozess vor der Braunschweiger Schwurgerichtskammer.
Elefterios V., erinnert sich der Oberstaatsanwalt a. D., sei als ein umgänglicher Mensch beschrieben worden. Warum der Mord? Der Prozess habe die Frage nach dem Motiv nicht beantwortet. Nicht bis ins Letzte.
1996 übernahmen Hamburger Zuhälter ein Haus in Braunschweig
Die Vorgeschichte des Verbrechens reicht zwei Jahre zurück: 1996 übernahmen Hamburger ein Haus in der Bruchstraße – aus Sicht der Polizei ein Zeichen dafür, dass im Vorfeld der bevorstehenden Weltausstellung „Expo 2000“ in Hannover ein Verteilungskampf um Marktanteile am Sex-Geschäft begann.
Mit den Großstädtern kam Unfrieden in die bis dahin eher als beschaulich geltende Bordellmeile. Die Prostituierten aus Hamburg brachten die ansässigen Frauen durch ihre freizügige Werbung um Freier gegen sich auf, sie arbeiteten „unter Tarif“. Der Konkurrenzkampf eskalierte: Braunschweiger Prostituierte sollen das Haus gestürmt, Mobiliar zerschlagen und auf die Frauen eingeprügelt haben. Die Polizei war alarmiert. „Ich glaube, die Braunschweiger haben nicht begriffen, dass die Hamburger in einer ganz anderen Liga angesiedelt sind“, wurde der damalige Polizeisprecher in der Presse zitiert.
Hamburger machten wohl Elefterios V als Wortführer aus
Im Milieu sei mit „Krieg“ gedroht worden, sagt Stockhaus. Als Wortführer der Braunschweiger hätten die Hamburger wohl Elefterios V. ausgemacht – obwohl die Aggression nicht von ihm ausgegangen sei.
Am Nachmittag des 22. Juli 1998 ist der 32-Jährige auf der A 395 von Wolfenbüttel nach Braunschweig unterwegs. Er hat dort eine Verabredung. Ein vor ihm fahrender Autofahrer beobachtet im Rückspiegel, wie V.s Wagen plötzlich von der Straße abkommt und sich überschlägt. Er stoppt, glaubt an einen Unfall, ruft die Polizei und versucht, den Schwerverletzten wiederzubeleben. Vergeblich. Elefterios V. stirbt noch am Tatort.
Für die Polizeibeamten ist schnell klar: Hier geht es um Mord. An der Fahrertür sind Einschusslöcher. Fünf Schüsse wurden auf den fahrenden Wagen abgefeuert, eine Kugel traf das Opfer. Die Täter müssen auf der Überholspur neben dem Fiat ihres Opfers gefahren sein und geschossen haben. „So etwas hatte es in Braunschweig noch nicht gegeben“, sagt Stockhaus. Die Ermittler wissen: Sie müssen nach einem geübten Schützen suchen.
Das Opfer war gewarnt und versuchte, sich zu schützen
Die Spur führt ins Milieu. Wochenlang schon hat sich Elefterios V. bedroht gefühlt, zeitweise trug er sogar eine schusssichere Weste, benutzte nicht mehr sein eigenes Auto. Zeugen hatten ihn gewarnt: Er werde beobachtet. In der Nähe seines Wolfenbütteler Restaurants waren ihnen Männer in einem Auto aufgefallen. V. notierte das Autokennzeichen. Der Zettel fand sich später im Fiat des Getöteten und sollte für die Aufklärung des Verbrechens entscheidend werden.
Auch bei der Polizei galt Elefterios V. zu diesem Zeitpunkt schon als gefährdet. Mitte Juni – also rund einen Monat vor dem Mord – war ein Anschlag auf eines seiner Restaurants in Wolfenbüttel verübt worden: Nachts detonierte ein Plastiksprengsatz. Eingangstür und mehrere Fenster wurden zerstört. Die Täter: unbekannt. Doch vermuteten die Ermittler einen Zusammenhang mit den Querelen im Rotlichtmilieu.
Nach dem Mord lässt eine merkwürdige Botschaft aufhorchen
Detlef Stockhaus arbeitete bei der Braunschweiger Staatsanwaltschaft in der Abteilung zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität, als er den Fall übernahm. „Das Braunschweiger Rotlichtviertel“, wusste er, „war nicht übermäßig aggressiv und auffällig.“ So habe es damals auf der Bruchstraße zum Beispiel keine Hinweise auf Menschenhandel gegeben. „Die Tat war für Braunschweig völlig ungewöhnlich.“
Was den Ermittlern in die Hände spielt: Seit dem Sprengstoffanschlag überwachte die Polizei die Telefonate der verdächtigen Hamburger Gruppierung. Nach dem Mord lässt eine merkwürdige Botschaft aufhorchen: Am 22. Juli 1998 um 17.03 Uhr – rund anderthalb Stunden nach den tödlichen Schüssen auf der A 395 – wird in einem der mitgeschnittenen Gespräche gesagt: „Zieht euch mal nicht so sportlich an, zieht euch mal fein an. Die Alte ist total hingestellt, ne.“
Ist „die Alte“ der Tarnname für Elefterios V.?
Die Handy-Ortung zeigt, dass sich die Sprecher auf der Autobahn Richtung Berlin befinden. Die Stimme am anderen Ende der Leitung warnt, daran zu denken, „auf jeden Fall das Auto wegzustellen“ und sich besser ein Taxi zu nehmen. „Bis dann.“
Melden da die Täter Vollzug? Ist „die Alte“ der Tarnname für Elefterios V., und soll ein Mord gefeiert werden? Fakt ist: Im Auto des Opfers haben die Ermittler den Zettel mit dem Autokennzeichen, das zu einem Mietwagen gehört. Kurzerhand lassen sie in Berlin nach dem grünen Mercedes fahnden. Und tatsächlich: Das Auto wird einige Stunden später auf einem Parkplatz am Bahnhof Zoo entdeckt, wie Stockhaus im Rückblick schildert.
Die Beweiskette scheint sich zu schließen: In dem Mietwagen finden sich Schmauchspuren. Das Schwarzpulvergemisch stammt vom selben Hersteller wie die Hülsen und Geschosse am Tatort. Auch Fingerabdrücke und DNA werden in dem Wagen sichergestellt. Sie lassen sich drei polizeibekannten 20, 21 und 22 Jahre alten Männern aus dem Hamburger Rotlichtmilieu zuordnen.
Hamburger Kiezgrößen geraten ins Visier der Ermittler
Alle drei, so bestätigen es später die Richter, saßen in dem gemieteten Fahrzeug, aus dem heraus die tödlichen Schüsse auf V. abgefeuert wurden. „Wer der Schütze war, ist nie festgestellt worden“, so Detlef Stockhaus. Juristisch mache das aber keinen Unterschied: „Es handelte sich um einen gemeinschaftlichen Mord.“
Für den allerdings nicht die drei allein verantwortlich gemacht werden. Die Ermittler vermuten hinter den „Soldaten“ Auftraggeber. Der Weg zu ihnen führt wiederum über die Auswertung der überwachten Telefonate. „Wir haben festgestellt, wer welches Handy benutzt und wer was gesagt hat. Daraus ergab sich für uns ein Bild.“
Die drei mutmaßlichen Auftraggeber werden in Hamburg festgenommen.
Im Visier: drei Hamburger Kiezgrößen, die im Streit schon einen anderen Braunschweiger mit einer Schusswaffe bedroht hatten und auch bei der räuberischen Erpressung eines Hamburger Geschäftsmannes gemeinsam aufgetreten waren. Es folgten Durchsuchungen in Hamburg. Gegen sechs Verdächtige wurden Haftbefehle erlassen.
Die drei mutmaßlichen Auftraggeber aus der Führungsebene werden in Hamburg festgenommen. Fahrer und Todesschütze – bis zum Schluss bleibt unklar, wer welche Rolle übernommen hat – haben sich ins damalige Jugoslawien abgesetzt. Es ist die Stunde der Braunschweiger Zielfahnder: Ein Deutscher wird Wochen später ausgeliefert, dem anderen wird in Jugoslawien der Prozess gemacht.
Die Männer in Untersuchungshaft schweigen
Der sechste im Bunde – er soll während der Schüsse auf der Rückbank des Täterfahrzeugs gesessen haben – wird von Zielfahndern gefasst, als er in Hamburg gerade auf dem Weg zum Flughafen ist, um sich in die Türkei abzusetzen. Die Männer in Untersuchungshaft schweigen. Doch die Beweise sind aus Sicht des Staatsanwaltes erdrückend. „In der Gesamtschau passte alles zusammen“, erinnert er sich. Bis hin zu den Verbindungsdaten der Handys, die belegen, dass sich die drei mutmaßlichen Täter im Fahrzeug vor dem Mord in Wolfenbüttel aufgehalten hatten.
Die angeklagten Hintermänner hätten Blitzer-Fotos von einer Geschwindigkeitskontrolle in Hamburg vorgelegt – als Alibi für die Tatzeit. Detlef Stockhaus kam es so vor, als hätten sie bewusst in die Kamera geschaut. Geholfen hat es ihnen nicht. „Dass sie zur Tatzeit in Braunschweig waren, ist ohnehin nie behauptet worden.“
Elefterios V. sollte angeblich zu einem Gespräch nach Hamburg gebracht werden
Im Indizienprozess geht es für die fünf Angeklagten letztlich um Freispruch oder „lebenslänglich“. Die Verteidiger kämpfen, halten die Kammer mit fast 130 Beweisanträgen auf Trab. Der Prozess zieht sich über 15 Monate. Es gibt 75 Verhandlungstage. Erst am Schluss erklärt der Hauptangeklagte, der als Kopf der Hamburger Gruppierung gilt, Elefterios V. habe lediglich zu einem Gespräch nach Hamburg gebracht werden sollen, um ihn zu einer Einigung zu zwingen.
Die Entführung sei aus dem Ruder gelaufen. Was im Einzelnen passiert sei, wisse er nicht. Stockhaus hält das für eine Schutzbehauptung. „Wer jemanden entführen will, der schießt nicht bei Tempo 100 auf der Autobahn ohne jede Rücksicht auf ein parallel fahrendes Auto und meldet hinterher Vollzug“, argumentiert er in seinem viereinhalb Stunden dauernden Plädoyer – dem längsten, das er je gehalten hat.
260 Seiten umfasst schließlich die Urteilsbegründung des Schwurgerichts. Fünfmal „lebenslänglich“. Und im Falle der Auftraggeber stellen die Richter am Braunschweiger Landgericht im Juli 2000 die besondere Schwere der Schuld fest, die eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren ausschließt. „Sie wollten ein Zeichen der Macht im Milieu setzen. Die Tat war von langer Hand geplant“, erklärt der Vorsitzende Richter.
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Mord an Elefterios V. Rechtskraft der Urteile wird vorübergehend aufgehoben
Doch sollen noch sieben Jahre vergehen, bevor die Akte um den Mord an Elefterios V. endgültig geschlossen wird. Nachdem der Bundesgerichtshof die Revision der Verteidiger gegen die Braunschweiger Urteile im November 2001 als unbegründet verworfen hat, hat eine Verfassungsbeschwerde dagegen fünf Jahre später Erfolg: Ermittelnde Polizeibeamte haben einen Mordverdächtigen mit türkischem Pass vor seiner Vernehmung nicht über sein Recht auf konsularischen Beistand aufgeklärt – ein Verstoß gegen eine völkerrechtliche Pflicht aus dem Wiener Konsularrechtsabkommen, der das Recht auf ein faires Verfahren verletze, urteilten die Verfassungsrichter.
Die Folge: Im Herbst 2006 wird die Rechtskraft der Urteile aufgehoben. Die Häftlinge werden aus der Strafhaft zurück in Untersuchungsgefängnisse übergeführt – kraft neu erlassener Haftbefehle. Der Bundesgerichtshof hat nun erneut über die Revisionen der Verurteilten zu entscheiden – und verwirft sie abermals.
Wesentliche Begründung: Trotz Verstoßes gegen die Belehrungspflicht gelte für die Aussagen des Beschuldigten vor der Polizei kein Verwertungsverbot. Daher ändere sich nichts an der Beweislage. Eine Wiedergutmachung sprachen die Bundesrichter dem Verurteilten wegen der versäumten Belehrung gleichwohl zu: Sechs Monate seiner lebenslangen Freiheitsstrafe wurden als verbüßt angerechnet. Nach einem Jahre dauernden Weg durch die Instanzen bestätigt der Bundesgerichtshof 2007 damit die Verurteilungen der Täter und Auftraggeber zu lebenslangen Haftstrafen.