Lüneburg. Die Lüneburger Professorin Claudia Kemfert über die Energiewende als Garant für Frieden und Wohlstand sowie die „Letzte Generation“.

Die Energieökonomin Claudia Kemfert hält die Energiewende nicht nur für zwingend, um eine Klimakatastrophe zu verhindern. Sie sieht im Wechsel zu den erneuerbaren Energien auch ein Friedensprojekt und einen Garanten für Wohlstand, sagt die Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität Lüneburg im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Kemfert, die auch die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin leitet, erläutert auch, warum sie trotz bisher geringer Fortschritte zuversichtlich in die Zukunft blickt.

Frage: Frau Kemfert, wie zuversichtlich blicken Sie in das neue Jahr?

Claudia Kemfert: Trotz allem Schrecken und Ungemach in der Welt - auch ausgelöst durch den schrecklichen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine - blicke ich zuversichtlich auf 2023. Wir können einen Wandel erreichen, auch wenn die versprochene Zeitenwende noch längst nicht vollzogen ist. Immer noch stecken wir in einer fundamentalen Energiekrise. Die damit verbundenen sozialen Herausforderungen werden groß sein. Aber Deutschland kann dem standhalten, wenn wir alles dafür tun, dass die sozialen Verwerfungen gering bleiben.

Um die negativen Wirkungen der Energiepreiskrise abzufedern, sind finanzielle Hilfen des Staates grundsätzlich ein probates Mittel. Aber es reicht nicht, die Entlastung durch die Gaspreisbremse mit der Gießkanne zu verteilen. Menschen mit niedrigen Einkommen müssen viel gezielter entlastet werden, nicht nur beim Gas, sondern bei allem, was durch fossile Energiepreise teurer wird. Da wird man nachsteuern müssen.

Was würden Sie einer Zwölfjährigen sagen, die sich vegan ernährt und auch sonst versucht, durch eigenes Verhalten Ressourcen zu sparen und die sorgenvoll in die Zukunft blickt?

Jede noch so kleine Aktivität hilft. Dazu habe ich insbesondere in meinem Buch „Mondays for Future“ aufgerufen. Jeder Beitrag zählt, egal an welcher Stelle, egal ob durch ressourcenschonendes Konsumverhalten, fleischlose Ernährung oder bewusstes Energiesparen. Besonders wichtig ist gesellschaftliches Engagement. Die Jugend macht es in der „Fridays for Future“-Bewegung vor. Genauso können und sollten auch alle anderen im Kleinen wie im Großen für den sparsamen Umgang mit Ressourcen eintreten.

Die Politik muss spüren, dass die Mehrheit der Menschen sich Rahmenbedingungen wünschen, die über das individuelle Konsumverhalten hinaus auch Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt in die Pflicht nehmen. Noch immer und viel zu sehr sind fossile Energien der Maßstab von politischen Entscheidungen. Das bringt uns nicht auf den Pfad, auf dem wir laut internationaler Vereinbarungen längst sein müssten. Die Sorgen sind berechtigt: So wie es derzeit läuft, steuern wir auf eine fundamentale Klimakatastrophe zu. Noch wird zu wenig getan.

Das unterstreichen auch die Aktivisten der Gruppe „Die letzte Generation“. Was halten Sie denn von deren Vorgehen – etwa wenn sie Kunstwerke mit Lebensmittel bewerfen oder sich an die Straße kleben?

Ich kann die Verzweiflung und Ohnmacht der Demonstrierenden verstehen. Diese Sorgen und Ängste sind wirklich ernstzunehmen, auch wenn ich mir bessere, weniger polarisierende Aktionen wünschen würde. Eine Kriminalisierung der Demonstrationen führt nur zu einer weiteren Eskalation. Stattdessen halte ich es für zentral, dass die politisch Verantwortlichen mit den Demonstrierenden proaktiv ins Gespräch treten. Wir stehen am Anfang einer gigantischen Krise und müssen als Gesellschaft gemeinschaftlich Lösungen entwickeln. Das geht nicht gegeneinander. Das geht nur miteinander im offenen, gewaltfreien Austausch.

In der Vorschau zu ihrem neuen Buch heißt es: Ein kleines Zeitfenster bleibt, durch entschlossenes Handeln unsere Energieversorgung zu sichern und gleichzeitig Demokratie, Wohlstand und friedliches Zusammenleben zu retten. Was muss denn vor allem geschehen?

Was die Bewältigung der Klimakrise angeht, sind wir sehr weit im Rückstand und wissen das seit vielen Jahren. Unser DIW-Forschungsteam hat der Bundesregierung konkrete, realisierbare Maßnahmen ins Aufgabenbuch geschrieben. Das beginnt mit einem deutlich schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien und das ist auch das vordringliche Mittel.

Ein anderes ist die Mobilitätswende, die weiter und weiter verschleppt wird. Da geht es um Verkehrsvermeidung, -verlagerung und -optimierung, die Stärkung des Schienenverkehrs und des ÖPNV oder den Ausbau von Fahrradwegen. Die Maßnahmen sind klar. Man muss sie nur umsetzen. Und die Volkswirtschaft würde davon profitieren! Auch in puncto energetische Sanierung sind wir extrem hinterher. Wir brauchen schnellstens sehr viel mehr Wärmepumpen und emissionsarme Fernwärmenetze.

Und wie sieht es im industriellen Sektor aus, der ja ebenfalls eine starke Emissionsquelle ist?

Auch der Industriesektor muss und kann durch Sparen und den Einsatz von Öko-Energien dekarbonisiert und modernisiert werden. Jetzt müssen wir parallel an einem breiten Strauß von Maßnahmen arbeiten, weil wir Jahrzehnte mit unnötigen Diskussionen verplempert haben. Der Krieg in der Ukraine hat nun Maßnahmen erzwungen. Der Bundesregierung muss man zugutehalten, dass sie schnell reagiert hat. Zugleich darf der Krieg keine Ausrede für den Ausbau fossiler Energien sein. Das passiert etwa bei den Flüssiggas-Terminals. Weder brauchen wir so viele, noch so massive. Im Hinblick auf unsere Klimaziele würden schwimmende Terminals für den Übergang völlig ausreichen.

Die Politik muss endlich begreifen: Das beste Friedensprojekt, das wir in der Welt haben, ist die Energiewende. Erneuerbare Energien sind Freiheits- und Friedensenergien. Die Konflikte, die wir weltweit haben, basieren eben auch auf dem Kampf um fossile Energien.

Geht denn eine Wende ohne deutliche Einschränkungen für den Einzelnen, etwa bei Konsum oder Wohlstand?

Die Energiewende schafft über Generationen hinweg enormen Wohlstand. Die erneuerbaren Energien sind jetzt schon billiger und werden es immer mehr. Sie sind unendlich und weltweit verfügbar, und zwar dezentral und partizipativ. Höhere Energieeffizienz erhöht den Wohlstand in Deutschland, weil wir auf teure Energie-Importe verzichten können. Mit der Energiewende sind Innovationen in der Digitalisierung, in der Mobilität, der Industrie verbunden – auch das vergrößert unseren Wohlstand.

Ohnehin ist Wohlstand so viel mehr als die Masse an Konsumartikeln. Eine faire und sozial gerechte Wirtschaft, eine intakte Umwelt, allgemeine Gesundheit und die Vermeidung klimabedingter Katastrophen sind mindestens ebenso relevant. Die Summe daraus ist Wohlstand für die heutige und auch für die zukünftigen Generationen.