Hamburg. Jan Böttcher schickt in seinem vorzüglichen Roman „Das Kaff“ den Helden zurück in die norddeutsche Tiefebene.

Die Stadt ist immer noch der Ort, an dem alles passiert, die Welt gelenkt, die Gesellschaft formiert, die Zivilisation vorangetrieben wird. Hier ist die Action. Hier lebt der Dichter, und er dichtet im Großstadtroman. Oder? Aber ja, keine Frage. Jede Saison erscheinen 100 Romane, mindestens, die in Berlin spielen. Es erscheinen aber auch zunehmend welche, die ausdrücklich nicht in Berlin oder München oder Köln spielen. Sondern auf dem Land, gerne im Alten, in Brandenburg, Meck-Pomm, im Westerwald, auf den Feldern und bei den Kälbern.

Der größte literarische Erfolg aus der Provinz war Dörte Hansens „Altes Land“, noch vor Juli Zehs „Unterleuten“. Mariana Lekys „Was man von hier aus sehen kann“ steht aber auch schon ziemlich lange auf der Bestsellerliste. Der beste Titel für eine Geschichte von der Heimatfront stammt von Alina Herbing: „Niemand ist bei den Kälbern“. Der plakativste ist von Katrin Seddig: „Das Dorf“. Jan Böttcher, der bereits seinen hübschen Pennälerroman „Das Lied vom Tun und Lassen“ in der niedersächsischen Provinz ansiedelte, legt nun freilich ein Buch vor, dessen Titel noch griffiger ist. Es heißt„Das Kaff“.

Schwester ist Weltverbesserin

Und mit diesem Titel wird bereits das Interesse Böttchers deutlich, seine Form der Annäherung an das Thema: Wie steht der Städter zum Dorf? Der in die weite Welt gezogene Eroberer, der verlorene Sohn, die verlorene Tochter, die zu ihren Wurzeln zurückkehrt? Das ist ein biografisches Klischee, aber ein sehr fruchtbares für jede Erzählhandlung. Auch jenseits von Rosamunde-Pilcher-Romanen.

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In „Das Kaff“ kommt Michael Schürtz in seinen Heimatort zurück, der kein richtiges Dorf ist, aber halt auch nur ein Kleinstädtchen. Was ist eigentlich kein Kleinstädtchen, von Berlin aus betrachtet? Er hat einen Job als Bau­leiter angenommen, wohnt im Haus eines ehemaligen Schulfreundes, der mit seiner Familie den Sommer woanders verbringt. Schürtz denkt, er ist nur vorübergehend zurück in der Stadt, „die ich nie wieder betreten wollte“, und er ist schlecht gelaunt, was aber vor allem daran liegt, dass es Probleme mit der Fertigstellung der Townhouses gibt – seines Projekts. Seine Geschwister leben noch im Ort. Die Schwester ist Weltverbesserin, der Bruder vor allem Lokalpatriot.

In Bewegung bleiben

An beiden Lebensmodellen kann sich Schürtz gut reiben, als 40-Irgendwas ist er zudem in genau dem Alter, in dem die Kiebigkeit zunimmt und das Rechtbehaltenwollen, was sich in seinem Fall in der Maxime bündelt, „dass man in Bewegung bleiben muss“. Ein hübscher Hinweis auf urbane Lebenslügen: Großstädter glauben ja oft, sie wären weiß Gott wie dynamisch und mobil, nur weil sie von Friedrichshain nach Pankow oder von der Schanze nach Altona ziehen. Schürtz strandet also in der alten Heimat, auch weil es anderswo zuletzt nicht so lief.

In Norddeutschland trifft er auf seinen alten Tischlermeister und auf eine neue Bekannte, mit der er bald das Bett teilt. Das ist die perfekte Kombination, um die Nostalgie, die der ohnehin mit allen großstädtischen Antikitschwassern gewaschene Mann allerdings gut versteckt, mit aufregenden, frischen Entdeckungen abzumildern. Wow, sogar im Kaff ist eine Steigerung des Lebens­gefühls möglich! Aber zunächst fühlt sich sein Heimkommen an wie eine 0:3-Heimniederlage im Lokalderby. Dieser unspektakuläre und vielleicht gerade deswegen umso feinere Roman, in dem dem 1973 in Lüneburg geborenen Böttcher die Figurenzeichnung bemerkenswert leicht von der Hand geht, handelt viel vom Fußball.

Das Fußballfeld ist der Mittelpunkt der Welt

Der Held wird über den Verein, den er seit seiner Kindheit kennt, wieder in die Dorfgemeinschaft gezogen: Sport als große Gemeinschaftsunternehmung. Sie bitten ihn, eine Jugendmannschaft zu trainieren, und Schürtz, dieser bockige Einzelkämpfer, wird dadurch tatsächlich wieder ins Kollektiv aufgenommen. Mehr „Zurück zu den Wurzeln“ geht nicht.

Und mit weniger Sentiment und gefühligem Brimborium als Böttcher kann man von einer Heimkehr nicht erzählen. Böttcher lebt seit Langem als Schriftsteller und Musiker in Berlin, er kennt den im Grunde unüberwindlichen Graben, der zwischen der Großstadt und dem Kaff liegt. Fußballhistorikern wird bei der Lektüre übrigens auffallen, dass Böttcher, der aktives Mitglied der deutschen Fußball-Autorennationalmannschaft ist und Herausgeber eines Buches über Union Berlin, den meisten seiner Romanhelden die Namen von einstigen und aktuellen Bremer Fußballgrößen verpasst. Die Menschen hier heißen Bartels, Bracht, Höttges, Sidka, der Hund Wynton (nach dem grandiosen neuseeländischen Stürmer Rufer).

Jan Böttcher:
„Das Kaff“.
Aufbau­Verlag.
267 S., 20 Euro
Jan Böttcher: „Das Kaff“. Aufbau­Verlag. 267 S., 20 Euro © Aufbau Verlag

Hamburg kommt auch vor, verkörpert durch feine Damen an der Elbchaussee („Knapp sechzig, gut aussehend, hanseatischer Genpool“) und ihren Anhang, von dem einer eine kühne Assoziation beim Helden hervorruft. Er glaubt, in ein Gesicht zu blicken, das ihn an „diesen Mäzen“ erinnert, „der wie eine Geißel am Hamburger Sportverein hängt“.

Nein, die Großstadt ist nicht mehr seins, und am Ende weißelt der Held den Rasenplatz, zieht akkurat alle Linien nach. Den Mittelkreis vergisst er erst mal; dabei ist er doch der Mittelpunkt der Welt.