Für 36 Stunden raus aus der Großstadt und die Region entdecken. Achter Teil der Abendblatt-Serie: Mit dem Fahrrad am Nord-Ostsee-Kanal entlang.
Ein Versprechen von Kaiser Wilhelm II. gilt in Schleswig-Holstein noch heute. Um die Vorbehalte im Volk gegen den Nord-Ostsee-Kanal abzubauen, versprach der Monarch, die Überfahrt mit der Fähre oder über eine Brücke werde alle Zeiten kostenlos sein. Wer die Wasserstraße heute, 120 Jahre nach ihrer Eröffnung, mit Hilfe einer der 14 Fähren oder auf einer der zehn Brücken überquert, muss also nichts bezahlen.
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Das ist für mich nicht ganz unwichtig. Schließlich wird mich mein 36-Stunden-Radtrip 110 Kilometer am Nord-Ostsee-Kanal entlang von Burg (Dithmarschen) bis nach Kiel führen. Und da kann es schon sinnvoll sein, hin und wieder mal die Seite zu wechseln. In Burg „setze“ ich als Erstes auf die südliche Seite des Kanals „über“. Die „Fährleute“ sind allesamt freundlich. Man kann sie also gern um Rat fragen.
Weil ich lediglich 36 Stunden Zeit für den Ausflug habe, nehme ich die „Expressstrecke“, die bis auf eine Ausnahme kurz vor Kiel parallel in Sichtweite zum Kanal entlangführt. Der Fahrradwanderweg, wie er in den verschiedenen Reiseführern beschrieben wird, ist rund 365 Kilometer lang und vollzieht immer wieder Schleifen in das Landesinnere von Schleswig-Holstein.
Erster Tag, 11 Uhr: Ich mache mich also auf den Weg. Eigentlich hatte ich schwierigere Verhältnisse erwartet. Aber es fährt sich angenehm. Der Weg besteht aus zwei Streifen gut und bündig verlegter Betonplatten. Die Federung meines Rades schluckt die Stöße locker weg. Ohne große Anstrengung schaffe ich 20 Stundenkilometer, auch deshalb, weil ich Glück und „Schiebewind“ aus westlicher Richtung habe.
Zunächst will ich Kilometer „fressen“. So ganz traue ich meinen Kräften nicht, und die rund 55 Kilometer lange erste Etappe bis Rendsburg ist ein gehöriges Stück Wegstrecke. Wie mit dem Lineal gezogen liegt der Weg vor mir. Hier und da vollzieht der Kanal eine lang gezogene Kurve. Da der „Radweg“ mit dem Kanal verbunden ist, gibt es keine Steigungen.
Langeweile kommt dennoch nicht auf. Immer wieder geben Büsche und Bäume den Blick ins Innenland frei. Auf dem Kanal wiederum ist einiges an Schiffen unterwegs. Schließlich gilt er als eine der meistbefahrenen künstlichen Wasserstraßen der Welt. Im vergangenen Jahr nutzten 32.589 Schiffe die Abkürzung zwischen Nord- und Ostsee und transportierten insgesamt rund 99 Millionen Tonnen an Fracht.
Ein Blick auf die Landkarte macht den wirtschaftlichen Vorteil für die Reedereien klar. Ohne Kanal wäre die Route beispielsweise zwischen Hamburg und Kopenhagen um fast 260 Seemeilen länger. Schiffe, die nach Stockholm oder Helsinki unterwegs sind, sparen sogar mehr als 330 Seemeilen. Abgesehen davon, dass die Fahrt am Kattegat vorbei – früher zumindest – nicht ohne Gefahr war.
Das alles spielt aber in diesem Moment keine Rolle. Hin und wieder ein Schluck Wasser aus der Trinkflasche. Aber ansonsten spüre ich, wie wohl mein Körper sich fühlt. Nach den ersten Kilometern hat er seine „Betriebstemperatur“ erreicht, und die Beine bewegen sich im Rhythmus des Auf und Ab der Pedalen wie von selbst.
Erster Tag, 12 Uhr: Meine erste Pausenstation ist die A 23-Brücke. Wie oft bin ich diese Strecke in Richtung St. Peter-Ording schon gefahren. Jetzt stehe ich am Fuß der Brücke, und von dem Autoverkehr ist so gut wie nichts zu hören. Während ich einen Energieriegel verzehre, fährt ein Containerfrachter vorüber. Es sind vor allem Feederschiffe, die den Kanal nutzen. Offiziell wurde er zwar 1895 eröffnet, seine Ursprünge reichen jedoch bis weit in das Mittelalter zurück. So soll es bereits im 7. Jahrhundert erste Pläne für einen Kanal quer durch das heutige Schleswig-Holstein gegeben haben.
Streit und Uneinigkeit in der politischen Führung verzögerten den Bau eines Kanals um Jahre. Letztlich musste Reichskanzler Otto von Bismarck ein Machtwort sprechen, sodass Kaiser Wilhelm I. am 3. Juni 1887 den Grundstein legen konnte. 8900 Arbeiter verbauten bis zur Eröffnung Material für 156 Millionen Goldmark. Seitdem wurde der Kanal mehrfach auf heute 162 Meter verbreitert.
Ich bin längst wieder unterwegs. Vor mir sehe ich den Containerfrachter E.R. Riga. Wo in der Welt kann man mit einem Frachtschiff, das sonst die Weltmeere kreuzt, um die Wette fahren? Am Nord-Ostsee-Kanal ist das möglich, und ich muss nicht mal bis ans Limit gehen, um zu gewinnen. Schließlich gilt auf dem Kanal ein Tempolimit von 15 Stundenkilometern.
Erster Tag, 13 Uhr: Etwa zwei Stunden nach meinem Start in Burg erreiche ich die Fähre Fischerhütte. Mein Magen knurrt und die frisch gemachte Currywurst mit Pommes kommt mir gerade recht. Ein nettes Plätzchen, direkt am Kanal gelegen. Die Imbissbetreiber sind auf Radgäste eingestellt. Sogar stählerne Fahrradständer gibt es hier. Überhaupt tauchen in schöner Regelmäßigkeit Gasthöfe oder Imbissstationen auf. Beim Essen wird mir klar, dass ich bisher kaum jemandem begegnet bin. Es herrscht wohltuende Einsamkeit. Und wenn man Menschen trifft, dann sind sie freundlich-wortkarg. Wie der alte Mann, der es sich an einem windgeschützten Platz bequem gemacht hat. Mein „Moin, Moin“ quittiert er mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken.
Erster Tag, 15 Uhr: Viel früher als ich erwartet habe, erreiche ich meinen Übernachtungsort Rendsburg. Es seien viele Familien mit Kindern oder Senioren mit dem Rad unterwegs, erzählt Peter Raub, zweiter Vorsitzender der Touristeninformation von Rendsburg. Viele Skandinavier seien darunter. Und dann erzählt er lächelnd, dass vor allem Senioren die Vorteile von E-Bikes entdeckt hätten. „Man muss zwar treten, aber der kleine Elektromotor macht das Vorankommen erheblich leichter“, sagt Raub.
Wenn man in Rendsburg übernachtet, kommt man nicht um eine Fahrt mit der Hängefähre – die Gondel hängt an Stahlseilen und wird unterhalb der eigentlichen Brücke über den Kanal gezogen – herum. Ich muss darauf verzichten, weil sie überholt wird. Der Grund für die Sanierung während der Ferienmonate: viele Schüler nutzen die Fähre auf dem Schulweg. Nichtsdestotrotz ist die Rendsburger Hochbrücke ein Höhepunkt meiner Reise. Schließlich gilt die Stahlkonstruktion als eines der bedeutendsten Technikdenkmäler Deutschlands.
Zweiter Tag, 9 Uhr: Der zweite Reisetag beginnt mit einer Überraschung. Die ersten Kilometer führen über eine huckelige Sandpiste. Ich werde mächtig durchgerüttelt. Aber nichts dauert ewig. Und so endet die Huckelpiste bei Klein-Königsförde. Hier führt der Weg hinein ins Schleswig-Holsteinische. Leicht hügelig ist es, auf den Feldern steht das Getreide goldgelb, der Himmel ist weit. Und dann, wie aus dem Nichts, liegt sie da, die frühere Kanalschleuse Königsförde. An Teilen der Backsteinmauern hat Moos sich breit gemacht. Das Gewässer ist teilweise mit Seerosen zugewachsen. Die Bäume am Ufer neigen sich weit über den alten Strom. Man sieht, dass hier lange schon kein Schiff mehr geschleust wurde.
Zweiter Tag, 12 Uhr: Die Schleuse liegt am früheren Schleswig-Holsteinischen Kanal, der zwischen 1774 und 1784 angelegt wurde. 43 Kilometer war er lang und ermöglichte den Verkehr seegehender Schiffe zwischen Nord- und Ostsee.
Der „Rückweg“ zum Kanal führt durch ein Naturschutzgebiet und ist ein guter Moment, sich die Kehrseite des Nord-Ostsee-Kanals ins Gedächtnis zu rufen. Die Eider wurde durch den Kanalbau von ihrem Oberlauf abgeschnitten, sodass die natürliche Strömung der Eider nicht mehr reicht, die von der Nordseeflut hereingetragenen Sedimente wieder hinauszutragen. Zwar hat man 1937 die Schleuse Nordfeld gebaut. Allerdings ist der Wasserhaushalt der Eider bis heute gestört. Auch andere Flüsse sind in ähnlicher Weise betroffen.
Zurück am Kanal werden auf den letzten Kilometern die Beine leichter. Hier und da ist schon eine Ostseemöwe zu hören. An der Schleuse in Kiel-Holtenau habe ich das Ziel meiner Reise erreicht. Es ist ein schönes Gefühl. Am Ende sind es rund 110 Kilometer geworden. Und eines weiß ich auch: ich komme wieder.