Schauergeschichten, Künstler-Karrieren und vieles mehr hat Worpswede zu bieten. In der neuen Serie entdeckt unsere Zeitung die Region.

Was ihr über mich denkt, das ist mir eigentlich egal. Ungefähr so könnte man den Spruch über dem Eingang des Kaffee Worpswede deuten: „Wer’t mag, de mag’; un wer’t nich mag, de mag’t jo woll nich mögen.“ Steinmetz und Bildhauer Bernhard Hoetger hatte die Inschrift 1925 anbringen lassen und wohl geahnt, dass sein extrem ungewöhnlich errichtetes Haus nicht nur positive Kritiken hervorrufen würde. „Schafft Bewegung und Leben in den Baukörper, habt Fantasie!“ hatte Hoetger seinen Maurern zugerufen, und tatsächlich wirken die Wände mit den skurril gesetzten Ziegeln so, als seien sie ständig in Bewegung. Das Dach erinnert an ein Wikinger-Schiff, das Innere an das gemütliche Heim eines Hobbits.

10 Uhr: Im Hoetger-Haus und in der Großen Kunstschau auf den Spuren der ersten Künstler-Generation

Im nostalgischen Moorexpress tuckert man gemütlich von
Osterholz-Scharmbeck
nach Worpswede
Im nostalgischen Moorexpress tuckert man gemütlich von Osterholz-Scharmbeck nach Worpswede © Nicole Kanning

„Kaffee Verrückt“ tauften die Einheimischen das Hoetger-Haus, doch sie meinten es nicht böse, eher amüsiert. Die Worpsweder haben Provokation und Kreativität stets willkommen geheißen. Was soll man auch anders machen, wenn plötzlich ein Künstler nach dem anderen in die Provinz zieht und dort eine Landschaft malt, die man selbst seit Jahrzehnten vor der Nase hatte, ohne ihre Besonderheit zu erkennen, die einem immer nur Arbeit bereitet hat. Wer denkt schon an Kunst, wenn die Ernte eingefahren und der Torf gestochen werden müssen. Welcher Landwirt nimmt heute seine Staffelei mit auf den Güllewagen, weil er nach getaner Arbeit noch einige Skizzen anfertigen möchte? Eben. Wobei ein malender Bauer im Sonnenuntergang ein schönes Motiv wäre ...

Ähnlich dem Motiv, das Otto Modersohn 1889 bei seiner Ankunft in Worpswede zu folgendem Tagebucheintrag veranlasste: „Herrlicher grauer Tag; Weib auf dem Acker gegen die Luft – Millet. Bleiben auf der Brücke stehen, nach allen Seiten die köstlichsten Bilder. Wie wäre es, wenn wir überhaupt hier blieben? Wir werden Feuer und Flamme, fort mit den Akademien, nieder mit den Professoren und Lehrern. Die Natur ist unsere Lehrerin und danach müssen wir handeln.“ 24 Jahre alt ist der Student zu der Zeit; neben ihm auf der Brücke steht Fritz Mackensen. Die beiden kennen sich von der Düsseldorfer Kunstakademie und beschließen tatsächlich, das Arbeiten in den Ateliers einzutauschen gegen ein Leben auf dem Lande. Zusammen mit den Freunden Hans am Ende, Fritz Overbeck und Heinrich Vogeler gründen sie die Worpsweder Künstlerkolonie. Ihre Bilder sind heute in der Großen Kunstschau neben dem Café Verrückt ausgestellt; ihre Spuren finden sich im ganzen Ort.

12 Uhr: Die Zentrale der Künstlerkolonie im Barkenhoff entdecken

Da wäre zum Beispiel der Barkenhoff von Heinrich Vogeler. Um 1900 war das Bauernhaus mit der geschwungenen Fassade der „place to be“ für alle, die sich der Kunst verschrieben hatten. Hier versammelten sich Maler, Musiker, Schriftsteller und Theaterleute rund um den Hausherrn Vogeler. Wer den strahlend weiß restaurierten Hof und seinen zauberhaften Garten heute besichtigt, der befindet sich mitten in der Keimzelle von Worpswedes internationaler Bekanntheit. Von hier ging alles aus. Eine einzige Ausstellung in München hatte gereicht, und schon war die Worpsweder Künstlerkolonie in aller Munde. Rainer Maria Rilke schrieb darüber: „Kommen da ein paar junge Leute daher, deren Namen niemand kennt, aus einem Dorf, dessen Namen niemand kennt , und man gibt ihnen nicht nur die besten Säle, sondern der eine erhält die große Goldene Medaille und dem anderen kauft die Pinakothek ein Bild ab.“

15 Uhr: Haus, Grab und Arbeiten von Paula Modersohn-Becker anschauen

Kleinod unter alten Bäumen: Das malerische Hofensemble
„Haus im Schluh“, in dem Martha Vogeler lebte
Kleinod unter alten Bäumen: Das malerische Hofensemble „Haus im Schluh“, in dem Martha Vogeler lebte © Nicole Kanning

Rilke war nur einer von vielen Kreativen, die den Mythos Worpswede mit eigenen Augen sehen wollten, und dem Ort – oder einem seiner Bewohner – verfielen. Paula Becker beispielsweise kam an und verliebte sich sofort in Otto Modersohn. Als Paula Modersohn-Becker wurde sie zur bekanntesten Malerin des Künstlerdorfs, allerdings erst nach ihrem sehr frühen Tod. Im Modersohn-Haus bekommt man einen guten Eindruck vom Leben der jungen Frau, für die die Bauern und Bäuerinnen der Ortschaft Modell standen. So idyllisch das Landleben auch zu sein schien, die Einsamkeit der Gegend machte Modersohn-Becker zu schaffen. Immer wieder flüchtete sie nach Frankreich, wo sie dann ihr Worpswede von Herzen vermisste und vielen befreundeten Künstler davon berichtete. Das muss man als norddeutsches Kaff erst mal schaffen, dass plötzlich in Paris von ihm gesprochen wird.

Fast jeder Worpswede-Besucher besichtigt das Grab von Paula Modersohn-Becker, nur wenige aber wissen, dass die Blumenfresken im Innern der Zionskirche von ihr geschaffen wurden. Die Skulptur auf dem Grab fertigte Bernhard Hoetger 1917 an, fünf Jahre später entwarf er eine weitere Sehenswürdigkeit Worpswedes. Für sie muss man allerdings gut zu Fuß sein, denn Hoetgers Mahnmal wider den Krieg, der Niedersachsenstein, befindet sich auf dem 55 Meter hohen Weyerberg.

20 Uhr: Schauermärchen rund um den Niedersachsenstein hören

„Wenn man ehrlich ist, gleicht der Weyerberg eher einem Maulwurfshaufen als der Zugspitze“, sagt Klaus Meyer. Der Grundschullehrer gibt Führungen in Worpswede. Manche starten erst, wenn es dunkel geworden ist, dann haben die Mythen, Legenden und Schauermärchen, die Meyer erzählt, einen noch besseren Effekt. An gruseligen Geschichten mangelt es der Region nicht, was entweder an der rätselhaften Natur oder dem damaligen eintönigen Leben liegt (oder an beidem). Meyer jedenfalls kennt die Anekdoten alle, und wenn er loslegt vom Riesen Hüklüth, vom geköpften Motorradfahrer oder der weißen Frau, die als Nebel verkleidet die kleinen Kinder holt, dann spürt man plötzlich den Hauch des Todes, der früher über der feuchten Landschaft gelegen haben muss.

Worpswede ist umgeben vom Teufelsmoor, mit 500 Quadratkilometern eine der letzten großflächigen Überschwemmungslandschaften Norddeutschlands. Wer dort jedoch hofft, den Teufel zu sehen, wird enttäuscht. Kein Luzifer weit und breit. Seinen Namen hat die Gegend vom niederdeutschen Wort für taub und unfruchtbar (duwen), so entstand die Bezeichnung „Düwelsmoor“, die irgendwann falsch übersetzt wurde als Teufelsmoor.

Die Besiedelung begann in der Mitte des 18. Jahrhunderts, woran der König von England einen entscheidenden Anteil hatte. Als Herrscher über diesen traurigen, unwirtlichen Flecken Erde bestellte er einen Moorkommissar, der die Region trockenlegen sollte. Die ersten Siedler hatten ein furchtbares Los: Sie waren so arm und ihre Arbeit so hart, dass viele von ihnen starben. So manche Familie bewahrte Särge auf dem Dachboden auf für den Fall, dass jemand im Winter starb. Viele Monate war Worpswede nämlich vom Rest der Welt durch Überschwemmungen abgeschieden, die Toten konnten oft erst Monate nach ihrem Ableben beerdigt werden.

10.30 Uhr : Mit dem Torfkahn

im Teufelsmoor auf zu alten Ufern

Eine Reise in die gar nicht gute alte Zeit erlebt man am besten bei einer Fahrt mit dem Torfkahn. Die traditionellen Halb-Hunt-Kähne aus Eichenholz konnten damals 100 Körbe Torf transportieren, heute schippern sie Touristen vom Worpsweder Anleger Neu Helgoland über die Hamme bis nach Osterholz-Scharmbeck. In diesen eineinhalb Stunden erblickt man genau die Landschaften, die man gerade noch im Museum auf Bildern gesehen hat. Das ist schon besonders an Worpswede, dass man die Kunst genau dort anschauen kann, wo sie entstanden ist – und gleichzeitig ein bisschen Heimatkunde erfährt. „Wir versuchen den Leuten ein bisschen von früher zu vermitteln. Vor den Künstlern gab es eben noch die Torfbauern, die dürfen wir nicht vergessen“, sagt Skipper Dietmar Kiekhöfer, der mit seiner Manchester-Hose und dem Elbsegler auf dem Kopf schon aussieht wie Jan Torf. Jan Torf wurden früher alle Bauern genannt, die das Torf aus dem Teufelsmoor auf ihren Kähnen nach Bremen brachten und dort als Brennmaterial verkauften.

12.35 Uhr: Mit dem Moorexpress

geht es zurück nach Worpswede

In Osterholz-Scharmbeck lässt man die gruselige Geschichte hinter sich und juckelt mit dem nostalgischen Moorexpress zurück nach Worpswede, wo man bei der Ankunft gleich wieder von einem Künstler begrüßt wird. Heinrich Vogeler gestaltete den Bahnhof aus dem Jahr 1910, in dem Jugendstil-Gebäude befindet sich heute ein Restaurant. Es steht zwar nicht auf der Karte, aber im Grunde serviert es auch die Geschichte von Worpswede: vom Moor ins Museum.

Teil 2 Mittwoch, 8. Juli