Lüneburg . Vier Jahre Haft: Jüdische Organisationen, Nebenkläger und Politik begrüßen das Urteil gegen Oskar Gröning in Lüneburg.
Vier Jahre für Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen. Um 9.50 Uhr verkündet der Vorsitzende Richter Franz Kompisch in Lüneburg das Urteil, für die Begründung nimmt er sich fast eineinhalb Stunden Zeit. Es geht vor dem Landgericht um einen der wohl letzten großen Auschwitz-Prozesse. Bei der Urteilsverkündung darf nur der Angeklagte sitzen bleiben, der 94-jährige Oskar Gröning ist stark geschwächt, er atmet schwer, immer wieder waren Verhandlungstage wegen seiner angegriffenen Gesundheit ausgefallen.
„Das ist ein Urteil, das wirklich Rechtsgeschichte schreibt“, sagt Nebenkläger-Anwalt Thomas Walther. Mit seinem Kollegen Cornelius Nestler vertritt er mehr als 50 der über 70 Nebenkläger, zumeist Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. „Es erfüllt uns mit Genugtuung, dass nunmehr auch die Täter Zeit ihres Lebens nicht vor einer Strafverfolgung sicher sein können“, sagt Walther. Und: „Beihilfe ist Beihilfe.“ Jahrelang hat er für diese Wertung gekämpft. Richter Kompisch hat einen Satz Nestlers zitiert: „In Auschwitz durfte man nicht mitmachen.“ Er hört sich ganz einfach an, auch Gröning hat die Worte in seinem Schlusswort wiederholt, doch haben deutsche Gerichte jahrzehntelang ganz anders geurteilt, wenn überhaupt. Kompisch übt daran deutliche Kritik.
Lange hätten die Gerichte nur eine ganz bestimmte Beteiligung an der tatsächlichen Tötung Einzelner verfolgt, kritisiert Kompisch, er nennt die Rechtsprechung „seltsam“ und spricht von „absurder Zersplitterung“. Von den 6500 SS-Männern, die in Auschwitz über die Jahre ihren Dienst taten, seien so nur 49 verurteilt worden. Der Mordparagraf habe aber immer eine Verfolgung erlaubt, betont er. Seit Mitte der 1960er-Jahre gab es nicht ein einziges Verfahren gegen einen SS-Angehörigen in Auschwitz wegen Beihilfe zum Mord. Dabei könne man auch nach 70 Jahren noch Gerechtigkeit schaffen.
„Er war ein Rad im Getriebe“, sagt Kompisch über Gröning, und er meint es nicht entschuldigend. Auch das Verwalten der Gelder der Verschleppten sei Beihilfe, das Bewachen ihres Gepäcks. So sei der Angeklagte Teil der Mordmaschinerie gewesen. Gröning hat eingeräumt, das Geld gezählt und weitergeleitet zu haben, gilt als „Buchhalter von Auschwitz“. Er hat berichtet, bis zu dreimal während der Ungarn-Aktion 1944 Dienst an der Rampe von Auschwitz-Birkenau getan zu haben. Mehr als 300.000 ungarische Juden wurden ermordet (siehe Text unten).
Die Auschwitz-Überlebende Eva Pusztai-Fahidi hat vor Gericht erklärt: „Es geht mir nicht um die Strafe, es geht mir um das Urteil, die Stellungnahme der Gesellschaft.“ Andere Zeugen äußerten sich ganz ähnlich. In erschütternden Details haben sie die Verschleppung ihrer Familien in den Tod geschildert, die Transporte in Viehwaggons und die unmenschlichen Zustände im Lager. Besonders nachhaltig haben die Aussagen auch deshalb gewirkt, weil die meisten Zeugen damals noch Kinder oder Jugendliche waren. Auch Gröning hat die grausamen Schilderungen bestätigt: „Nein, nicht übertrieben“, hat er dazu knapp gesagt. „Insgesamt verdient Ihr Verhalten, trotz dieser Strafe, durchaus Respekt“, sagt Kompisch. Auch Walther lobt Grönings Verhalten, und er meint seine Aussagen. „Das gab es noch nie“, sagt er.
Das Urteil stieß überwiegend auf Zuspruch. Als „wohlverdient“ bezeichnete Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, den Schuldspruch. Die Strafverfolgung ehemaliger NS-Verbrecher müsse aber weitergehen. Ähnlich äußerte sich der Jüdische Weltkongress (WJC): Gröning müsse zwar möglicherweise seine letzten Jahre in Haft verbringen. „Aber das ist eine geringe Strafe im Vergleich zu den unbeschreiblichen Verbrechen, zu denen er beigetragen hat“, sagte WJC-Präsident Ronald S. Lauder. Auch der evangelische Landesbischof Ralf Meister aus Hannover hält den Schuldspruch für gerechtfertigt. „Die rechtliche Verfolgung von Mord und von Staatsverbrechen im Nationalsozialismus darf nicht vom Alter der mutmaßlichen Täter abhängig gemacht werden.“ Der Prozess sei für die Auschwitz-Überlebenden wichtig, sagte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). „Vor allem die Opfer haben in dem Prozess die Möglichkeit gehabt, ihre Leiden zu schildern.“