Lüneburg. Erinnerung hier, juristische Aufarbeitung dort: In Bergen-Belsen wird Opfern des Vernichtungslagers gedacht, in der Nähe steht ein Alt-Nazi vor Gericht.
In Israel, Ungarn und den Vereinigten Staaten werden sie in den nächsten Tagen die Koffer packen, um nach Niedersachsen zu reisen. Es geht ihnen um die Aufarbeitung der Gräueltaten im nationalsozialistischen Deutschland – aber die beiden Anlässe könnten unterschiedlicher nicht sein. Rund 100 Überlebende werden am 26. April im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen erwartet, sie werden Zeugnis ablegen über das ihnen angetane Unrecht. Nur gut 50 Kilometer Luftlinie entfernt in Lüneburg werden dagegen mehr als 60 Nebenkläger als Hinterbliebene des Massenmords in Auschwitz ab dem 21. April den vielleicht letzten Versuch in Deutschland verfolgen, in einem ordentlichen Prozess vor dem Landgericht das unvorstellbare Leid juristisch aufzuarbeiten.
Die einen in Bergen-Belsen werden reden: Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, nennt ihre Erinnerungen und nicht die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck den Höhepunkt der Veranstaltung. Wagner ist schon länger genervt von den ewig gleichen Ritualen, mit denen in diesen Wochen der Befreiung der Konzentrationslager in Deutschland und des Kriegsendes vor 70 Jahren gedacht wird. Ein „Kult der Erinnerung ohne nachzudenken“ werde da zelebriert und „Betroffenheitskitsch“, die Überlebenden der Konzentrationslager würden ausgestellt wie in einem „Streichelzoo“, anstatt sie zu Wort kommen zu lassen. Folgerichtig hat er gleich sechs Reden von Überlebenden eingeplant, die erzählen sollen und wollen, wie sie auch den Tag der Befreiung am 15. April erlebt haben. Wagner geht es erklärtermaßen um eine echte Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen und eine Abkehr von der bisherigen Praxis: „Wir merken, dass Überlebende bei den Veranstaltungen wie Zootiere vorgeführt werden, manchmal schmückt man sich gar mit ihnen.“
Im Lüneburger Gerichtssaal dagegen bleibt den über 60 Nebenklägern nur die Rolle der Zuhörer. Die aus ihrer Sicht wichtigste Frage: Wird sich der angeklagte 93-jährige Oskar G. überhaupt zur Sache einlassen, wird er berichten über seine Arbeit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, wo er als Freiwilliger der Waffen-SS die Aufgabe hatte, das im Gepäck der Menschen gefundene Bargeld zu zählen? Er soll mitgeholfen haben, das Gepäck von soeben angekommenen Häftlingen wegzuschaffen. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft geschah dies, um die Spuren der Massentötung für nachfolgende Häftlinge zu verwischen.
Dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ hat er im Jahr 2005 Rede und Antwort gestanden und dabei auch den Massenmord nicht geleugnet. Angeklagt ist er wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen, die Staatsanwaltschaft konzentriert sich damit auf den Zeitraum Mai bis Juli 1944, als mehr als 400.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz gebracht und zumeist umgehend umgebracht worden waren.
Rechtsanwalt Thomas Walther vertritt rund 30 der Nebenkläger, und er hofft auf eine Aussage des Angeklagten, damit die Toten „Gesicht und Stimme gewinnen“. Seine Mandanten hätten Geschwister und Eltern gehabt, denen sie nie begegnet sind: „Sie sind in die Schattenfamilien hineingeboren worden, die Überlebende gründeten und die nur von den Schatten der in Auschwitz Ermordeten begleitet wurden“.
Die zuständige 4. Große Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Franz Kompisch hat diese Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen. Damit ist denkbar, dass das Gericht am Ende dem Tenor eines Urteils des Landgerichts München aus dem Jahr 2011 folgt. Damals hatte das Gericht im Fall John Demjanjuk bejaht, dass ein KZ-Wachmann der Beihilfe schuldig ist, wenn er wusste, dass die Masse der als nicht arbeitsfähig eingestuften Häftlinge im Regelfall umgehend ermordet wurde und wenn er diese Morde durch seine Arbeit unterstützte. Weil der Angeklagte im Münchener Fall nach der Verurteilung, aber vor einer Entscheidung im Revisionsverfahren gestorben ist, geht es unverändert auch um die Frage, ob letztlich der Bundesgerichtshof 70 Jahre nach Kriegsende die Rechtsprechung erweitert.
Vielleicht ist es eben dieser Punkt, der das riesige auch internationale Interesse an der Verhandlung erklärt. Das Gericht verhandelt im Tagungszentrum der Ritterakademie auch deshalb, weil im normalen Gerichtsgebäude alle Beteiligten gar nicht hätten untergebracht werden können. Die britische BBC, aber auch die New York Times und Medien aus Israel, Russland und Ungarn haben sich akkreditieren lassen. In der Ritterakademie gibt es zudem Platz für 60 Zuhörer, auch sie werden auf Waffen, aber auch gefährliche Chemikalien untersucht.
Das Landgericht Lüneburg war nach Ende des Zweiten Weltkrieges bereits Schauplatz des ersten NS-Kriegsverbrecherprozesses überhaupt, der am 17. September 1945 begann. Elf Personen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet wegen der Ermordung von zahlreichen Häftlingen im Konzentrationslager Bergen-Belsen.
Die Zentralstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg ermittelt noch in zwölf ähnlich gelagerten Fällen. Ob es angesichts des Alters der Verdächtigen überhaupt noch zu einem weiteren Gerichtsverfahren kommt, ist aber offen.