Peter Harry Carstensen, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, wird 65 Jahre alt. Nach der Wahl im Mai tritt er von der politischen Bühne ab.
Kiel. Der Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, rechnet auf dem Landesparteitag in Husum vor einer Woche hart mit SPD und Grünen ab. Schräg hinter ihm thront Peter Harry Carstensen. Plötzlich ändert Kauder die Tonlage, rühmt den scheidenden Kieler Ministerpräsidenten: "Er war ein Glücksfall für Schleswig-Holstein." Carstensen schießen die Tränen in die Augen. Er blickt nach unten, wischt mit der Hand übers Gesicht.
Der König von der Küste hat nah am Wasser gebaut und sieht deshalb den nächsten Tagen mit gemischten Gefühlen entgegen. Am Montag wird der friesische Hüne seinen 65. Geburtstag im kleinen Kreis feiern, am Freitag mit mehr als 400 Gästen aus Politik, Sport und Kultur im großen Plöner Schloss. Die Laudatio hält Angela Merkel. Der Kanzlerin und CDU-Bundesvorsitzenden dürfte es schwerfallen, ihren wohl treuesten Landesfürsten gut zwei Monate vor seinem Amtsende nicht erneut zu Tränen zu rühren.
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Merkels Abstecher in die Provinz ist nicht nur dem Wahlkampf in Schleswig-Holstein geschuldet. Sie hat eine enge Bindung zu Carstensen, stärkt dem früheren Bundestagsabgeordneten im Herbst 2004 den Rücken, als der CDU-Spitzenkandidat als "Pannen-Peter" durch den Wahlkampf in Schleswig-Holstein stolpert, via "Bild"-Zeitung nach einer Ehefrau sucht und sein lückenhaftes Schattenkabinett auf einem kleinen Parteitag unter dem Punkt "Verschiedenes" vorstellt. Die Berliner CDU-Zentrale schickt damals auf Order Merkels einen ihrer besten Köpfe, den Politstrategen Klaus Schüler, an die Förde. Carstensen, der schon übers Hinwerfen nachdenkt, kommt wieder auf Kurs und 2005 mit viel Glück in die Kieler Staatskanzlei, als seine Vorgängerin Heide Simonis (SPD) in vier Wahlgängen kläglich scheitert.
Auch damals im Landtag hat Carstensen seinen Gefühlen freien Lauf gelassen. Als Simonis aufgrund eines Abweichlers aus den eigenen Reihen durchfällt, jubelt Carstensen in die Kameras und erschwert so den Start der späteren CDU/SPD-Koalition. Umso reibungsloser schlüpft der Diplom-Bauer in die Rolle des Landesvaters. Er lässt selten ein Fest und kaum ein Festmenü aus, gibt in fröhlichen Runden Lebensweisheiten preis wie "Das Leben ist schön" oder "Beim Essen und Tanzen möchte ich drei Hände haben". Solche Döntjes fallen dem "Gute-Laune-Bären" spontan ein, sind oft von einem einfachen Weltbild geprägt und Carstensen manchmal im Nachhinein peinlich. Inzwischen hat er dazugelernt. Wenn er im Kreis von Journalisten derbe Sprüche reißt, folgt meist ein klarer Hinweis: "Nicht, dass ihr das aufschreibt."
Carstensens Leutseligkeit gilt heute im Landeshaus als ein Grund für das Scheitern der Großen Koalition, für den Bruch zwischen dem redseligen Bauchpolitiker Carstensen und dem ehrgeizigen Kopfmenschen Ralf Stegner (SPD), der seine Auftritte und manchmal selbst Gesten plant. Jeder könne eine Große Koalition mit Erfolg führen, wenn Stegner nicht dabei sei, bilanziert Carstensen später und räumt in einem weiteren Bonmot ein, dass er durchaus nachtragend sein kann. "Leute, die ich mag, mag ich innig, und Leute, die ich nicht mag, mag ich innig nicht." An der Großen Koalition hält Carstensen gleichwohl lange fest, auch aus Pflichtgefühl. Im Sommer 2009 obsiegt sein Machtinstinkt. Der Ministerpräsident bootet die SPD aus und schmiedet - im Gleichschritt mit Kanzlerin Merkel im Bund - ein schwarz-gelbes Regierungsbündnis.
Bei den Koalitionsverhandlungen, die Carstensen mit FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki vorbereitet, setzen die Liberalen sich in vielen Punkten durch. Der Ministerpräsident, der sich im Bundestag vor allem um Bauern, Jäger und Fischer kümmerte, kennt zwar jeden Referatsleiter im Kieler Landwirtschaftsministerium, aber bis heute nicht alle Fallstricke der Landespolitik.
Vieles überlässt der Nicht-Stratege dem Zufall, so auch die Zusammenarbeit mit Hamburg. Der Regierungschef, der sich beim Amtsantritt als möglicherweise letzter Ministerpräsident eines Landes Schleswig-Holstein feiern ließ, flirtet später mit Hamburg, entwirft aber keinen Masterplan für einen Nordstaat und muss nun zerknirscht erkennen, dass der wichtigste Nachbar unter Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) eigene Wege geht.
Umso ernster nimmt Carstensen sein Herzensthema, die Haushaltspolitik. Mithilfe unzähliger Schautafeln rechnet Carstensen immer wieder vor, dass in Schleswig-Holstein ohne Sparkurs bald griechische Verhältnisse herrschten. Der Regierungschef, der sich offen dazu bekennt, dass er einst im Bundestag nicht jeden Euro zweimal umgedreht hat, belässt es in Kiel nicht bei Worten. Unter seiner Führung tritt die schwarz-gelbe Koalition Ende 2010 mit dem Haushalt für die nächsten beiden Jahre auf die Schuldenbremse und schafft so die ersten Schritte, um die Neuverschuldung des Pleite-Landes spätestens 2020 auf null zu senken.
Carstensen nimmt dafür ein großes Opfer in Kauf. Der Politiker, der es harmonisch mag und Beifall liebt, wird auf Anti-Spar-Demonstrationen ausgepfiffen und bei Veranstaltungen auch auf dem flachen Land angefeindet. Der Regierungschef steht das nicht nur durch, weil er vom Sparkurs überzeugt ist. Er weiß auch sehr genau, dass es diese Kehrtwende in der Finanzpolitik ist, mit der er sich seinen Eintrag in die Geschichtsbücher des Landes sichert.
Das Ende seiner Amtszeit hat Carstensen lange geplant. Bereits 2009 lässt er durchblicken, dass er 2012 mit 65 Jahren in Pension gehen möchte, um zur vermeintlichen Hälfte der fünfjährigen Wahlperiode den Regierungsstab an einen Nachfolger zu übergeben. Viele nehmen das nicht ernst, weil Spitzenpolitiker dazu neigen, anvisierte Abschiedstermine zu stornieren und am Sessel zu kleben. Carstensen hält Wort, obwohl sich die politische Lage radikal ändert. Das Landesverfassungsgericht verkürzt im Sommer 2010 mit seinem Neuwahl-Urteil die Legislaturperiode um mehr als zwei Jahre, und der ausgewählte Nachfolger Christian von Boetticher streicht im Sommer 2011 wegen einer Affäre mit einer Schülerin die Segel.
Carstensen beantwortet die bis heute im Landeshaus diskutierte Frage, ob sein Kronprinz wirklich zurücktreten musste, auf seine Art. Im kleinen Kreis macht er eine ernste Miene und räumt scheinbar zerknirscht ein, dass er auch mal eine Affäre mit einer 16-Jährigen hatte. Carstensen freut sich dann wie ein großes Kind über die entsetzten Gesichter und ergänzt schmunzelnd: "Ich war damals 17."
Für den Regierungschef ist damit alles gesagt, für viele seiner Parteifreunde nicht. Dass Carstensen von Boetticher als Thronerben aussuchte und trotz parteiinterner Kritik lange an ihm festhielt, gilt als weiterer Beleg dafür, dass der Regierungschef bei der Personalauswahl kein glückliches Händchen hat. So ist Carstensen für gleich zwei Wirtschaftsminister verantwortlich, die scheiterten. Der Manager Werner Marnette wirft nach acht Monaten hin, sein Nachfolger, der IHK-Mann Jörn Biel, wird nach sechs Monaten mit der Wahl 2009 abserviert.
Unter den Fehlgriffen leidet er ebenso wie unter dem wachsenden Gefühl, für den Knochenjob von Parteifreunden und Medien nicht genügend Lob zu erhalten. An seinem Abschiedsplan hält Carstensen selbst entgegen eines Wunsches von Merkel aber aus zwei anderen Gründen fest. Er leidet unter Herz- und Kreislaufproblemen, muss sich vor einigen Monaten nach einem Schwächeanfall im Landtag im Krankenhaus behandeln lassen. Carstensen erinnert denn auch in der ihm eigenen Art daran, dass die Staatskanzlei nicht alles ist: "Ich bin keiner, der von hier aus direkt auf die Bahre will."
Gesteigert wird der Wunsch auf ein Leben nach der Politik durch sein privates Glück. Auf der Feier zu seinem 60. Geburtstag stellt der Witwer erst Merkel und dann der Öffentlichkeit seine Lebensgefährtin Sandra vor. Silvester 2009 geben sich der Bauer und die 25 Jahre jüngere Juristin auf Föhr das Jawort, im Sommer drauf holen beide in Westensee den kirchlichen Segen ein. In seinem Geburtshaus auf Nordstrand ist Carstensen nur noch selten. Er lebt mit Sandra im früheren Forsthaus des Gutes Schierensee - zur Untermiete beim Brillenfürsten Günther Fielmann.
Im Schloss Plön, das ebenfalls zum Fielmann-Imperium gehört, wird Carstensen am Freitag auf Einladung der Landes-CDU mit vielen Freunden feiern. Seinen letzten Arbeitstag kennt der Regierungschef noch nicht. Geht alles glatt, räumt er nach der Wahl eines neues Ministerpräsidenten Anfang Juni sein Amtszimmer. Verzögert sich die Regierungsbildung in Schleswig-Holstein, muss der König später abdanken.