Eine Studie in Deutschland zeigt: Wenn ältere Menschen maßvoll Alkohol trinken, könnte ihr Risiko sinken, an Alzheimer zu erkranken. Wo aber verläuft die Grenze zwischen Genuss und Gefahr?
Berlin. Das liest man als älterer Mensch gern, am besten bei einem Gläschen Rotwein: Ein paar Dämmerschoppen pro Woche, ein halber Liter Bier zum Abendbrot oder ein Verdauungsschnäpschen ruinieren nicht die kleinen grauen Zellen – sie können bei betagten Menschen sogar die schleichende Demenz ausbremsen. So lautet das Ergebnis in einer Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. Die aufkeimende Freude wird allerdings dadurch getrübt, dass in derselben Studie auch davor gewarnt wird, im Alter die früheren Trinkgewohnheiten beizubehalten. Begründung: Das könnte im fortgeschrittenen Lebensalter mehr schaden als in jüngeren Jahren. Wo aber verläuft die Grenze zwischen Genuss und Gefahr für Frauen und Männer im Seniorenalter?
Um diese Frage zu beantworten, wurden in sechs großstädtischen Regionen Deutschlands (Bonn, Düsseldorf, Hamburg, Leipzig, Mannheim und München) 3224 nicht an einer Demenz erkrankte Frauen und Männer nach ihrem aktuellen Alkoholkonsum befragt. Sie waren alle älter als 75 Jahre, lebten aber noch zu Hause, wo auch die Befragungen durch Ärzte, Psychologen und Gerontologen stattgefunden haben. Die Ergebnisse dieser „AgeCoDe Studie“ (German Study on Ageing, Cognition and Dementia in Primary Care Patients) wurden in der internationalen Fachzeitschrift „Age and Ageing“ (40(4)) publiziert.
Wie Professor Dr. Siegfried Weyerer, Epidemiologe am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, und Professor Dr. Martina Schäufele von der Fakultät für Sozialwesen an der Hochschule Mannheim im psychiatrischen Fachblatt „Neurotransmitter“ berichten, gaben zum Zeitpunkt der ersten Befragung durch ihre Arbeitsgruppe 26,6 Prozent der Männer und 62,4 Prozent der Frauen an, keinen Alkohol (mehr) zu trinken. Einen leichten bis moderaten Alkoholkonsum registrierten die Untersucher bei 61,3 Prozent der Männer und 34 Prozent der Frauen. Als Kriterium für diese Gruppe galt die Klassifikation der British Medical Association BMA: Danach beginnt riskanter Alkoholkonsum erst bei einem Verzehr von durchschnittlich mehr als 20 Gramm reinen Alkohols pro Tag bei Frauen und 30 Gramm bei Männern (siehe unten).
20 Gramm entsprechen etwa 0,5 Liter Bier oder 0,2 bis 0,25 Liter Wein. Wer sich täglich mehr als diese Mengen genehmigte, wurde zu der Gruppe der riskanten Trinker gezählt: Hierzu gehörten 12,1 Prozent der Männer und 3,6 Prozent der Frauen. Demnach erfüllten also nur relativ wenige Hochbetagte die Kriterien für einen schädlichen Alkoholkonsum.
Die Befragung nach den bevorzugten Alkoholika erbrachte – zumal für das für seine Biervielfalt berühmte Deutschland – überraschende Ergebnisse. Bei Älteren scheint Bier an Beliebtheit zu verlieren: 48,6 Prozent der Senioren tranken ausschließlich Wein, 29 Prozent ausschließlich Bier, 22,4 Prozent nahmen verschiedene Getränke (Wein, Bier und Spirituosen) zu sich.
Eineinhalb Jahre nach Beginn der Studie wurden die Teilnehmer zum ersten Mal befragt, nach weiteren 18 Monaten erfolgte die zweite Untersuchung durch qualifizierte Interviewer. Innerhalb dieser drei Jahre hatten 217 von nunmehr noch 3202 Teilnehmern eine demenzielle Erkrankung entwickelt. Bei 111 Personen handelte es sich um eine Alzheimerkrankheit, bei 14 Personen diagnostizierten die Ärzte eine Demenz als Folge des Alkoholkonsums.
Eine große Metaanalyse internationaler Studien hatte bereits 2011 ergeben, dass ein starker Alkoholkonsum die Wahrscheinlichkeit für eine demenzielle Erkrankung um durchschnittlich zwölf Prozent erhöht. Dagegen ist bei nur leichtem Alkoholkonsum das Demenzrisiko um 25 Prozent und bei moderatem Konsum um 31 Prozent reduziert. „Die in Deutschland erstmals in unserer Studie bei über 75-Jährigen erhobenen Befunde stehen in Einklang mit Ergebnissen aus dem Ausland“, stellt Studienleiter Professor Dr. Siegfried Weyerer fest. Und: „Auch nach Kontrolle einer Vielzahl von anderen Einflussfaktoren (Alter, Geschlecht, Bildung, Alleinleben, Rauchen, Depression, leichte kognitive Störungen, körperliche Erkrankungen, genetisches Risiko) hatten Personen mit geringem bis mäßigem Alkoholkonsum eine signifikant niedrigere Wahrscheinlichkeit, im Laufe eines Beobachtungszeitraums von drei Jahren an einer Demenz zu erkranken. Bezogen auf alle Demenzen, war das Risiko um 29 Prozent niedriger, bezogen auf die Alzheimererkrankung um 42 Prozent niedriger.“
An solchen Aussagen wird allerdings oft kritisiert, dass die Vergleichsgruppe der Nichttrinker durch einen wichtigen Aspekt zu falschen Ergebnissen führen könnte: In dieser Gruppe befinden sich nämlich vermutlich auch ehemalige Alkoholkranke, die zwar jetzt nicht mehr trinken, durch ihren früheren extremen Alkoholkonsum jedoch bereits die Grundlage für eine spätere Demenz gelegt haben könnten. Professor Weyerer betont jedoch: „Auch wenn ehemalige Alkoholkranke aus der Gruppe der Abstinenten ausgeschlossen werden, ist nach wie vor eine signifikante Reduktion des Demenzrisikos um durchschnittlich 21 Prozent festzustellen.“
Bei den Patienten, die im Laufe der drei Untersuchungsjahre eine Demenz entwickelt haben, fanden die Mannheimer Forscher deutliche Unterschiede zwischen den drei, nach ihren Trinkgewohnheiten befragten Gruppen:
Von den Senioren, die ausschließlich Bier tranken, erkrankten 13 Prozent weniger an einer Demenz als nicht trinkende Altersgenossen; bei ausschließlichen Weintrinkern betrug die Risikominderung 21 Prozent und
bei den Personen, die Wein, Bier und andere alkoholische Getränke in moderaten Mengen zu sich nahmen, wurde sogar eine 65-prozentige Reduktion des Demenzrisikos festgestellt.
An den Gefahren eines erhöhten Alkoholkonsums auch bei älteren Menschen lassen jedoch Weyerer und Schäufele in ihrer Publikation in der Fachzeitschrift „Neurotransmitter“ keine Zweifel zu: Alles, was über die unbedenklichen Mengen hinausgeht, kann die weitverbreiteten Plagen des Alters, wie hoher Blutdruck, Diabetes, Gicht, Schlafstörungen oder Depressionen, noch zusätzlich verschlimmern. Sogar die ärztliche Behandlung derartiger Leiden wird durch Alkohol konterkariert: „Infolge der physiologischen Veränderungen bei älteren Menschen ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass selbst kleine Mengen von Alkohol die Wirkung von zusätzlich eingenommenen Medikamenten verstärken oder herabsetzen oder gefährliche Interaktionen hervorrufen“, so das Autoren-Duo.
Die beiden Wissenschaftler weisen auch auf einen weiteren Tatbestand hin, den trinkfreudige ältere Menschen beachten sollten: In der epidemiologischen Forschung werden neben den manifesten alkoholbezogenen Störungen zunehmend auch Konsummuster unterhalb der klinischen Schwellen berücksichtigt. Von besonderer Bedeutung sind solche Konsummuster gerade bei älteren Menschen. In Folge altersbedingter physiologischer Veränderungen erhöht sich die Sensitivität gegenüber den (negativen) Wirkungen des Alkohols. Unter anderem ist auch die Alkoholtoleranz vermindert: „Gleichbleibende Konsummengen können deshalb in höherem Alter weitaus mehr schaden als in jüngeren Jahren. Die Vulnerabilität (,Verwundbarkeit‘) älterer Menschen gegenüber Alkohol erhöht sich umso mehr, je stärker mit dem Alter die Morbidität (Krankheitsanfälligkeit) und, damit verbunden, die Multimedikation zunimmt.“
Fazit der Forscher: „Alkoholkonsum in geringer bis moderater Dosis ist nicht schädlicher als völlige Abstinenz oder sogar günstiger, entfaltet also eine förderliche Wirkung. Höhere Konsummengen hingegen können die physische und psychische Gesundheit umfassend schädigen und sind mit schwerwiegenden sozialen Folgen und vorzeitiger Sterblichkeit assoziiert.“