Mithilfe eines Computermodells lässt sich simulieren, welche Maßnahmen einzelnen Arten der Agrarlandschaft helfen und welche nicht.
Rottenburg/Hamburg. Viele Feld- und Wiesenvögel, die auf Agrarflächen zu Hause sind, werden seit Jahrzehnten deutschlandweit seltener. Sie leiden darunter, dass wertvolle Lebensräume (Ackerbrachen, Ökolandbau) Intensivkulturen wie Maisäckern weichen mussten. Lag das Verhältnis von günstigen zu ungünstigen Lebensräumen Mitte der 1990er-Jahre noch bei 1:1, so beträgt es nach Angaben des Julius-Kühn-Instituts heute 1:20. Forscher der Hochschule Rottenburg (Baden-Württemberg) haben in Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität Gießen und Vogelkundlern vom Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA)ein Computermodell entwickelt, das eine gezielte Hilfe für die Vogelwelt ermöglicht. Mit ihm lassen sich Nutzungsänderungen, aber auch staatlich subventionierte Umweltmaßnahmen der Landwirte simulieren und deren Auswirkungen auf 50 Brutvogelarten berechnen.
„Derzeit fließt viel Geld der Steuerzahler in Agrarumweltmaßnahmen. Doch die Landwirte bestimmen allein, welche Maßnahmen sie auf welchen Flächen ergreifen. Es gibt bislang kein Instrument, das anzeigt, wo mit dem geringsten ökonomischen Aufwand der größte ökologische Nutzen erzielt werden kann. Das lässt sich anhand von Computersimulationen jetzt feststellen“, sagt Projektleiter Prof. Thomas Gottschalk, der in Rottenburg Naturraum- und Regionalentwicklung lehrt.
Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Projekt läuft von 2010 bis 2014 und ist Teil der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Ihr Ziel ist eine ökonomisch, ökologisch und sozial ausgewogene Entwicklung. Dazu werden 21 Schlüsselindikatoren betrachtet (s. Beitext). Einer von ihnen ist die „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“. Die Vogelwelt, für die ein großer Fundus an Beobachtungsdaten vorliegt, gilt als gute Messgröße für die Artenvielfalt.
„Zunächst mussten wir für unser Modell deutschlandweit die Feldfruchtdaten ermitteln“, sagt Gottschalk. „Da die Landwirtschaft föderal organisiert ist, haben wir einige Monate gebraucht, bis wir wussten, was in den einzelnen Bundesländern auf welcher Fläche angebaut wird.“ Schließlich mussten die Forscher genau sein: Das Modell arbeitet mit einem Flächenraster von 25 mal 25 Metern. Jedes Raster enthält Aussagen zur Landnutzung, Topografie und zum Klima. Es kann virtuell ökologisch aufgewertet werden, etwa durch die Anlage von Hecken, blühenden Ackersäumen oder höheren Wasserständen in Entwässerungsgräben.
Um die Auswirkungen auf die Vögel errechnen zu können, mussten die Wissenschaftler ihr Modell nun noch mit den Bestandszahlen der 50 Vogelarten speisen. Der DDA lieferte mehr als 300.000 Brutvogeldaten. In dem Verband sind mehr als 5000 meist ehrenamtliche Ornithologen organisiert, die Daten zur Vogelwelt erheben. Entstanden sind zwei Modelle: Das erste zeigt an, ob eine Art auf der betrachteten Fläche überhaupt vorkommt, das zweite kann sogar die Individuenzahl kleinräumig darstellen.
Ein wichtiger Repräsentant der Vogelwelt in der Landwirtschaft ist der Kiebitz. Gottschalk: „Er ist, wie auch die Uferschnepfe, in Norddeutschland stark vertreten. Deshalb hat der Norden für diese Arten eine besondere Verantwortung.“ Gerade in Schleswig-Holstein und Niedersachsen ging im Zuge des Biogasbooms Grünland an den Maisanbau verloren. Dieser gilt als wichtige Ursache für den Artenschwund auf Agrarflächen. Doch anders als erwartet zeigt das Modell: Bei günstigen Rahmenbedingungen kann der Kiebitz vom vermehrten Maisanbau profitieren.
„Nach unserem deutschlandweiten Szenario könnte die Kiebitzpopulation bis 2050 um 30 Prozent ansteigen, wenn der Maisanteil bis dahin von heute 4,5 auf 6,7 Prozent erhöht wird“, so Gottschalk. Kiebitze kommen bereits im März aus ihren Überwinterungsgebieten. Dann sind Maisäcker kahl und bieten gute Brutmöglichkeiten. Denn die Wiesenvögel bevorzugen ein offenes Gelände, in dem sie herannahende Feinde früh entdecken können. Sind die Jungen geschlüpft, wird der Mais schnell zu hoch. Deshalb führen die Elterntiere ihren Nachwuchs, so bald dieser laufen kann, aus dem Acker heraus.
Jetzt kommt es darauf an, dass die Kiebitzfamilien in der nahen Umgebung einen geeigneten Lebensraum finden. Ackerbrachen oder extensiv bewirtschaftete Weiden sind ideal für sie, intensiv genutztes Grünland, das viermal im Jahr gemäht wird, dagegen wertlos. Denn hier wächst das stark gedüngte Gras so schnell und üppig, dass die Vögel kaum mehr darin herumlaufen und Feinde rechtzeitig wahrnehmen können. Diesen Einfluss auf den Bruterfolg bildet das Modell noch nicht ausreichend ab. Das könnte erklären, warum die Kiebitzbestände in der Realität weiter sinken, obwohl die Brutflächen in Form von Maisäckern zugenommen haben.
Extensive Beweidung und das Anlegen von vernässten Stellen können dem Kiebitz helfen, zeigen die Simulationen. Doch für andere Feldvogelarten ist dies unattraktiv. So können Goldammern oder Neuntöter mit übersichtlichen Landschaften wenig anfangen. Sie bevorzugen strukturreiche Lebensräume mit Hecken, Gebüsch und Baumgruppen. Das Modell könne helfen, die Umweltmaßnahmen gezielt zu platzieren, betont Gottschalk: „Die Arten reagieren unterschiedlich, manche gegensätzlich. Je mehr Arten betrachtet werden, desto größer ist die Aussagekraft des Modells. Mit seiner Hilfe können wir etwa in einem Gebiet mit Goldammer-Schwerpunkt diese Art fördern, in einem anderen dagegen den Kiebitz und andere Wiesenvögel.“
Der Trend zu mehr Maisäckern bliebe trotz potenzieller Vorteile für Kiebitze unterm Strich negativ: „Zum Beispiel der Rotmilan, die Grauammer und das Braunkehlchen bevorzugen eher Gebiete mit Grünlandflächen. So zeigte sich, dass eine weitere Ausdehnung des Maisanbaus keine nachhaltige Landnutzungsform darstellt, sondern zu einem drastischen Verlust der Agrarvogelpopulationen führt“, heißt es in einem Projektbericht für die DFG.
Derzeit betreiben die Forscher weitere Modellläufe, etwa mit einem erhöhten Anteil von extensiv genutzten Weiden oder von Sommergetreide. Zudem analysieren sie den Einfluss klimabedingter Landnutzungsänderungen auf gefährdete Vogelarten in Sachsen-Anhalt. „Dieses Projekt hat der DDA an uns herangetragen“, sagt Gottschalk. Er hofft auf weitere interessierte Bundesländer: „Sie hätten damit ein Instrumentarium für eine gezieltere Förderung der biologischen Vielfalt.“
Weitere Ansatzpunkte, wie speziell Wiesenvögeln zu helfen ist, soll eine Studie im Auftrag der Michael Otto Stiftung liefern. „Wir werden sie im Februar veröffentlichen“, sagt Stephan Zirpel, Geschäftsführer der Hamburger Stiftung. Die Quintessenz laute: „Man braucht jemand, der sich um die Umweltmaßnahmen kümmert. Es wäre sinnvoll, ein Viertel der Zuschüsse für Umweltmaßnahmen in Beratung zu investieren. Dann würde mit den restlichen 75 Prozent sicherlich mehr erreicht werden können als heute mit dem gesamten Förderbetrag.“