Demografen korrigieren die bisherige Berechnungslage. Resultat: Frauen in Deutschland bekommen durchschnittlich mehr Kinder als gedacht.
Rostock. Die Geburtenrate in Deutschland liegt höher als amtlich ermittelt. Das zeigt eine Berechnung des Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung (englisch abgekürzt: MPIDR) in Rostock. Während die offizielle statistische Hochrechnung für das Jahr 2010 zum Ergebnis kommt, dass die westdeutschen Frauen im gebärfähigen Alter durchschnittlich 1,39 Kinder zur Welt bringen (Ostdeutsche: 1,46 Kinder), kalkulierten die Rostocker Demografen die Tatsache mit ein, dass Frauen heutzutage später Mutter werden als noch in den 50er-Jahren, in denen die amtlichen Kennziffer entstand. Ergebnis: Die Geburtenrate liegt tatsächlich bei etwa 1,6 Kindern.
Die Abweichung ist auch deswegen bedeutend, weil auf Basis der Geburtenrate langfristige Prognosen zum Beispiel für die Sozialversicherungen erstellt werden. "Auch unsere Berechnung ist ein Schätzwert", sagt Michaela Kreyenfeld vom MPIDR. "Aber sie berücksichtigt, dass das Alter, in dem eine Frau ihr erstes Kind bekommt, kontinuierlich angestiegen ist. Um diese sogenannte Tempokorrektur vornehmen zu können, müssen wir nicht einzelne Jahre, sondern Zeitreihen betrachten, in diesem Fall 2001 bis 2008."
Allein in diesem Zeitraum kletterte das durchschnittliche Alter der Frauen, die ihr erstes Kind gebären, in Westdeutschland von 27,4 auf 28,7 Jahre. In Ostdeutschland stieg das Alter der Frauen bei der Erstgeburt von 26,1 auf 27,5 Jahre.
Die neue Kalkulation benötigt mehr Daten als amtlicherseits bislang zur Verfügung standen. So muss bekannt sein, ob die erfasste Geburt das erste, zweite, dritte oder weitere Kind der Frau ist und wie alt die Mutter ist. Kreyenfeld: "Erst 2001 ist damit begonnen worden, diese Angaben deutschlandweit in einem zentralen Register der Krankenhausdaten zu erfassen. Seit dem Jahr 2009 sind sie in die amtlichen Statistiken integriert."
Während auch der Rostocker Ansatz eine Prognose ist, liefern die Geburtenraten je Jahrgang reale Zahlen. Allerdings immer nur rückblickend für Jahrgänge, die inzwischen aus dem gebärfähigen Alter heraus sind. Derzeit liegt das Limit beim Jahrgang 1961, den heutigen 50-Jährigen.
Die Geburtenrate der einzelnen Jahrgänge spiegelt die unterschiedlichen Trends in West- und Ostdeutschland wider: Während weibliche Jahrgänge 1950 und 1960 in Ostdeutschland jeweils im Mittel 1,8 Kinder zur Welt brachten, sank der Wert in Westdeutschland von 1,7 auf 1,6. Bei den Daten der nachfolgenden Jahrgänge zeigt sich ein Silberstreif am Horizont: "Die Jahrgänge um 1970 scheinen einen Trend zu markieren", sagt Joshua Goldstein vom MPIDR. Zwar seien die Zahlen noch mit einer Unsicherheit behaftet, aber offensichtlich scheinen die Frauen ab dem Jahrgang 1970 wieder mehr Kinder zur Welt zu bringen, in West- wie Ostdeutschland. Ein Grund könne die verbesserte Familienpolitik sein, mutmaßen die Rostocker MPIDR-Forscher; jüngere Frauen kämen in den Genuss der verstärkten Kinderbetreuung und des neuen Elterngeldes.
Auch 20 Jahre nach der Wende geben die Demografen keine gesamtdeutschen Zahlen an, weil die Geburtenraten und -trends in West- und Ost noch sehr unterschiedlich sind. So brach nach der Wende die Geburtenrate auf dem Gebiet der ehemaligen DDR deutlich ein, in Westdeutschland nahm sie über Jahrzehnte kontinuierlich ab, ungeachtet von politischen Umbrüchen oder Neuerungen der Familienpolitik. Einzige Ausnahme: der Pillenknick.
Erst im Jahr 2008 überflügelte die ostdeutsche Geburtenrate die westdeutsche wieder. Dabei sind die Lebensverhältnisse der Mütter sehr unterschiedlich. So kamen in Ostdeutschland drei Viertel aller erstgeborenen Kinder unehelich zur Welt - das ist Weltspitze. In Westdeutschland liegt der Anteil bei 36 Prozent. Zudem gehe der Trend im Osten zur Ein-Kind-Familie, während der Anteil der Einzelkinder in Westdeutschland sinke, so das MPIDR. Bei der Kinderlosigkeit liegt der Westen vorn: 20 Prozent der 44- bis 48-jährigen Frauen sind kinderlos, in Ostdeutschland sind es zwölf Prozent.
Selbst wenn die Geburtenrate tatsächlich etwas höher liegt als bislang berechnet, so bleibt auch der neue Wert von 1,6 Kindern je Frau unter dem "magischen Wert" (Kreyenfeld) von 2,1. Dieser bezeichnet das "Bestandserhaltungsniveau", also die Kinderzahl pro Frau, die die Größe der Bevölkerung ohne Zuzug von außen konstant hält. Von dieser Kennziffer sei Deutschland weit entfernt; Frankreich und Schweden seien dagegen "nah dran", so Kreyenfeld.