Ein Hamburger Kinderarzt setzt bei ADS-Patienten das Neurofeedback-Training ein. Bei dem zehn Jahre alten Jonas zeigt die Methode gute Erfolge.
Hamburg. Das Wettrennen scheint schnell entschieden. Die grüne Raupe auf der Mittelbahn hat schon nach einer halben Minute einen klaren Vorsprung, die rote und die blaue kriechen oben und unten hoffnungslos hinterher. Jonas sitzt ruhig und entspannt in einem schwarzen Ledersessel, seine Arme lässt er entlang seines Körpers baumeln, die Handflächen hat er nach außen gedreht. Den virtuellen Dreikampf auf dem Flachbildschirm des Computers einen Meter vor ihm steuert er ausschließlich mit seinen Gedanken, und als wenig später die grüne Raupe mit Abstand als Erste die Ziellinie überquert, lächelt Dagmar Fröse zufrieden.
Die 33-Jährige ist Neurofeedbacktrainerin im Lingens-Institut im Blankeneser Mühlenberger Weg und Jonas ihr Klient. Vor einem halben Jahr litt der Zehnjährige noch an für seine Lehrer und Eltern auffälligen Aufmerksamkeitsdefiziten, an ADS oder gepaart mit Hyperaktivität ADHS, wie die Mediziner sagen. Inzwischen kann sich Jonas immer öfter über einen längeren Zeitraum auf eine Sache konzentrieren, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden, Geräusche im Umfeld ausblenden. Das macht auch Mutter Tine stolz: "Nicht nur Jonas' Noten in der Schule haben sich entscheidend verbessert, er ist auch viel selbstbewusster geworden und sicherer und geschickter im Auftreten." Als sie vor ein paar Monaten mit ihrem Sohn nach einer der Sitzungen nach Hause fuhr, erzählt sie, habe er plötzlich voller Erstaunen zu ihr gesagt: "Mama, ich glaube, ich bin vielleicht doch nicht so blöd, wie ich mal dachte." Da habe sie "eine gewisse Erleichterung verspürt". Jonas, laut IQ-Tests ein intelligenter Junge, besucht heute eine Gemeinschaftsschule. Er ist jetzt ein guter und beliebter Schüler.
Beim Neurofeedback werden - ähnlich der Elektroenzephalografie (EEG) - über drei an der Kopfhaut befestigte Elektroden Gehirnströme gemessen. Je nach Frequenz geben sie Auskunft über die neuronalen Aktivitäten. Die Theta-Wellen, für Jonas dargestellt als rote Raupe, sind Signale im Frequenzbereich zwischen vier und acht Hertz. Sie treten vermehrt auf im Zustand der Entspannung, bei Müdigkeit oder eben dann, wenn man unaufmerksam ist. High-Beta-Wellen sind Signale im Frequenzbereich von mehr als 23 Hertz. Sie entstehen, wenn das Gehirn sehr viele Ressourcen verbraucht, um Aufmerksamkeit herzustellen. Das ist nicht erwünscht. Deshalb setzt sich dann bei Jonas die blaue Raupe in Gang.
Um die grüne, die "gute" Raupe voranzutreiben, muss Jonas sich bewusst stark konzentrieren. Das ist das Ziel der Übungen. In diesem Fall registriert der Computer Frequenzen im Bereich von zwölf bis 15 Hertz. Der sogenannte sensomotorische Rhythmus (SMR) ist ein Band der Beta-Wellen (13 bis 30 Hertz).
Auf dem Bildschirm, über die Bewegung der drei Raupen, kann Jonas zu jeder Zeit den Grad seiner Aufmerksamkeit nachvollziehen, und er ist heute auch in der Lage, sie zu kontrollieren. Im Laufe der Sitzungen, das ist der therapeutische Ansatz des Computerspiels, hat er gelernt, seine Konzentrationsfähigkeit selbst zu steuern. Trainerin Dagmar Fröse begleitet den Lernprozess, notiert Veränderungen, greift jedoch nicht in ihn ein. Der Klient soll eigene Techniken entwickeln, wie er Konzentration und Achtsamkeit positiv beeinflussen kann. Über wiederholte Erfolgserlebnisse, die das Gehirn als Modell für künftige Handlungen für sich abspeichert, entsteht der erhoffte Lerneffekt. Jedes Erfolgserlebnis, jeder Sieg der grünen Raupe, fördert ebendiesen Lernverlauf und die Bildung neuer Synapsen im Gehirn. Weil zuvor einige dieser Schaltstellen nicht perfekt funktionierten, kamen wichtige Botenstoffe nicht an den richtigen Gehirnstellen an - und führten zu den Verhaltensdefiziten. "Mit ihren individuellen Strategien lernen die Kinder, ihre Unaufmerksamkeit abzutrainieren und sich Konzentration anzutrainieren. Dabei entwickeln sie Automatismen, die sie später abrufen können", sagt Fröse.
Der Hamburger Kinderarzt Dr. Nicolaus Lingens, 50, hat vor sechs Jahren das Lingens-Institut gegründet, um im Team mit erfahrenen Spezialisten Kinder und Jugendliche bei Problemen des Heranwachsens zu begleiten. Dabei ist der Einsatz von Neurofeedback bei Aufmerksamkeitsdefiziten das Hauptaufgabengebiet. "Die Anwendung von Neurofeedback führt bei einer großen Zahl von ADS- oder ADHS-Klienten in absehbarer Zeit zu nachvollziehbaren Ergebnissen", sagt Lingens. Medikamente wie der ADS-Hemmer Ritalin könnten oft schon nach dem ersten Sitzungsblock von 25 bis 30 Stunden, verteilt auf drei Monate, ganz abgesetzt oder deutlich reduziert werden. "Wichtig bleibt jedoch, dass der Klient von Beginn an bereit ist, selbst etwas verändern zu wollen, dass er einen gewissen Leidensdruck spürt und seine Lebenssituation verbessern möchte. Ansonsten wären wir machtlos", sagt Lingens.
Jonas spürte vor einem Jahr dieses undefinierte Unwohlsein, er glaubte, nicht das leisten zu können, was er wollte. Den Eltern fiel diese Diskrepanz bei Diktaten auf. Bei häuslichen Übungen unterliefen Jonas kaum Rechtschreibfehler, bei Klassenarbeiten dagegen zu Hauf. Die Lehrerin reagierte hilflos auf die Symptome. "Sie war mit der Situation überfordert", sagt Jonas' Mutter, "und statt ihn im Klassenraum vorn mit einem Tischnachbarn hinzusetzen, wie es bei ADS-Kindern empfohlen wird, platzierte sie ihn hinten an einen Einzeltisch." Heute kann sie darüber lachen. Jonas ist ein fröhliches Kind und ein begabter Fußballer. Der HSV hat ihn bereits zum Probetraining eingeladen.
Neurofeedback hat längst den engen Bereich der Therapie verlassen. Im Hochleistungssport findet die Methode immer öfter Anwendung, gesprochen wird darüber aber oft nur hinter vorgehaltener Hand. Im täglichen Konkurrenzkampf werden selbst kleine Geheimnisse wie Schätze gehütet. Gerade das Steigern der Konzentration, die Fähigkeit, sich auf bestimmte Anforderungen und Aufgaben fokussieren zu können, entscheidet im Wettstreit der Weltbesten über Erfolg und Misserfolg. Als prominente Anwender des Neurofeedbacks gelten die kanadische Olympiamannschaft, die bei den heimischen Winterspielen 2010 in Vancouver zum ersten Mal die inoffizielle Medaillenwertung gewann, und die italienische Fußball-Nationalmannschaft, die 2006 in Deutschland Weltmeister wurde.
Jonas will ebenfalls Fußballprofi werden. Erst einmal ist er aber "sehr müde". 45 Minuten volle Konzentration können sehr anstrengend sein. "Ich merke jedoch, wie ich immer besser werde", sagt er. Spaß mache es auch - "wenn die grüne Raupe gewinnt!" Und woran denkt er bei dem Raupenspiel? "An nichts", sagt Jonas.
Neurofeedback wird bislang nur von privaten Krankenkassen bezahlt. Eine Sitzung im Lingens-Institut in Blankenese kostet für Selbstzahler 65 Euro.