Neustadt. Die Stimmung zwischen den Eheleuten ist zum Zerreißen gespannt, deshalb muss es jetzt der Dolmetscher für Spanisch richten. Links auf der Anklagebank ein langhaariger Mann, der ein schwarzes Shirt mit Totenkopf-Emblem unter der dicken Lederjacke trägt, rechts sitzt eine fahrig wirkende Frau in knallengen Leoparden-Leggins, dazwischen der Übersetzer. "Wir brauchen Sie als Puffer", sagt die Amtsrichterin.
Es gab immer viel Streit zwischen Jörg M., 42, und Dora H. de M., 54, vielleicht sogar Gewalt. Inzwischen regiert blanker Hass. Doch zumindest in einem Punkt scheinen sich die Eheleute, die sich seit gestern vor Gericht verantworten müssen, einig zu sein: dass die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft haltlos sind. Sie hat die beiden als Urheber einer ganzen Reihe entwicklungspsychologischer Defizite ihres Sohnes angeklagt. Über Jahre hinweg sollen sie ihre Fürsorgepflicht grob verletzt und den Kleinen massiv vernachlässigt haben. Das Gebiss des Jungen komplett kariös; Grobmotorik und psychische Entwicklung schwer gestört. Laut Anklage war der Junge sogar dabei, als sich die Mutter prostituierte. Ein Schularzt attestierte dem damals Fünfjährigen, er befinde sich auf dem kognitiven Niveau eines Zweijährigen.
Energisch schüttelt Dora H. de M. den Kopf. Ihre Aussage - ein einziges, wirres Bestreiten - muss die Richterin zusammensetzen wie ein Puzzle. "Ich habe mich immer um mein Kind gekümmert", sagt die 54-Jährige, die ob der Vorwürfe empört wirkt. Sie habe ihren Sohn nicht mit Schlafmitteln ruhiggestellt. Sie habe ihn nicht, wie angeklagt, noch im Alter von fünf Jahren gestillt, und er habe auch nie zusehen müssen, wenn sie als Prostituierte in St. Georg Freier bediente. Vielmehr sei sie das Opfer der "Mafia", die ihren Sohn "umbringen" wolle und ihn seit drei Jahren vor ihr versteckt halte.
Und zur "Mafia" gehörten neben ihrem Noch-Ehemann und dessen Mutter auch das Jugendamt sowie eine Dolmetscherin. Eine psychiatrische Gutachterin schreibt jedes Wort aufmerksam mit. Es gebe Hinweise auf eine psychische Erkrankung, sagt sie später.
Seit 2008 lebt der Junge, nun 8, bei einer Pflegefamilie. Kein Einzelfall: Seit Jahren greifen Hamburger Behörden immer häufiger ein, um Kinder vor ihren Eltern zu schützen. Die "vorläufigen Schutzmaßnahmen" münden aber nur in seltenen Fällen in einer dauerhaften Unterbringung, etwa in einer Pflegefamilie. Der Vorjahres-Spitzenwert von 1730 Fällen gehe indes auf den stark gestiegenen Anteil unbegleitet eingereister Minderjähriger zurück, teilte das Statistische Landesamt mit.
Auch Jörg M., der den Jungen wieder sehen darf, ist sich keiner Schuld bewusst. Er habe stets für den Kleinen gesorgt und gekocht. "Woher kommen die Karies?", fragt die Richterin. "Er hat immer süßen Saft getrunken, daran lag es wohl." Der Prozess wird fortgesetzt.