Suche nach dem Higgs-Boson geht wohl in die entscheidende Phase. Der Hamburger Forscher Peter Schleper über Experimente am Cern.

Hamburg. Die Spannung steigt: Seit März läuft der Teilchenbeschleuniger LHC am Cern in Genf mit erhöhter Leistung; die Suche nach dem Higgs-Boson geht womöglich in die entscheidende Phase. Schon bei der Teilchenphysikerkonferenz im Juli in Melbourne könnte die Entdeckung des Partikels bekannt gegeben werden - vielleicht kommt aber auch heraus, dass es gar nicht existiert oder andere Eigenschaften hat als erwartet.

Prof. Peter Schleper vom Institut für Experimentalphysik der Universität Hamburg ist mit seinem Team am CMS-Detektor beteiligt. Die Anlage, 21 Meter lang und mit einem Gewicht von 12 500 Tonnen fast doppelt so schwer wie der Eiffelturm, misst Signale, die bei der Kollision von Teilchen im LHC entstehen. Über diese aufwendige Spurensuche wird Schleper am nächsten Dienstag in einem öffentlichen Vortrag berichten. Das Abendblatt sprach mit ihm über die Bedeutung des Higgs und den Nutzen der Experimente für die Gesellschaft.

Hamburger Abendblatt: Im Dezember 2011 sprachen die Forscher am Cern von "spannenden Hinweisen" auf das Higgs. Wie nah sind sie tatsächlich dran?

Peter Schleper : Noch sind die Hinweise schwach. Zwar haben wir bei zwei verschiedenen Experimenten eine Häufung ungewöhnlicher Ereignisse im gleichen Massebereich registriert; die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei aber um bereits bekannte Teilchen handelt und nicht um das Higgs, liegt bei etwa eins zu 1000. Wir müssen jedoch eine Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million erreichen, um sicher zu sein, dass diese Signale durch das Higgs entstehen. Es deutet allerdings einiges darauf hin, dass wir solche Daten noch in diesem Jahr finden könnten - deshalb ist die Aufregung groß.

Seit März 2010 haben die Physiker am Cern bereits Billionen von Teilchenkollisionen analysiert. Warum ist das Higgs-Teilchen so schwer zu finden?

Schleper : Weil es nur sehr selten entsteht. Das Higgs ist der Theorie nach sehr schwer im Vergleich zu anderen Elementarteilchen, es lässt sich nur erzeugen, wenn andere Teilchen mit hoher Masse und hoher Energie aufeinanderprallen. Diese Zustände können wir selbst mit dem LHC nur schwer herstellen. Allerdings wird uns dies durch die immer weiter erhöhte Leistung der Maschine künftig öfter gelingen.

Milliarden Euro aus staatlichen Mitteln sind schon in den LHC gesteckt worden. Wie ist das zu rechtfertigen?

Schleper : Es gibt etliche gute Gründe, warum sich diese Investitionen lohnen. Zum Beispiel ergeben sich daraus Aufträge für die Industrie und für Forschungsinstitute. Daran hängen Tausende Arbeitsplätze. Und ein Teil der neuen Technik wird später in ähnlicher Form an anderer Stelle zur Anwendung kommen. Wenn etwa ein deutsches Halbleiterunternehmen bestimmte Materialien für den LHC entwickeln soll, werden diese langfristig auch in andere Produkte dieses Unternehmens einfließen. Ein anderes Beispiel sind supraleitende Magnete, die für Teilchenbeschleuniger am Desy und am Cern entwickelt wurden. Kleine Versionen solcher Magnete arbeiten bereits in Röntgengeräten, die für die Krebsdiagnostik genutzt werden. Und noch etwas spricht für die Investitionen: In internationalen Großprojekten können verblüffende Dinge entstehen, mit denen niemand rechnen würde. Die Grundzüge des World Wide Web etwa sind 1989 am Cern erfunden worden, weil Forscher ihre Erkenntnisse besser austauschen wollten - heute spielt das Web eine enorm wichtige Rolle für uns alle. Wer weiß, welche praktischen weitreichenden Folgen die Arbeiten am LHC einmal haben werden.

Welche unmittelbare Bedeutung hätte die Entdeckung des Teilchens?

Schleper : Es wäre ein Durchbruch für unser physikalisches Verständnis der Natur, der sichtbaren Welt. Unsere jetzigen Naturgesetze basieren auf Symmetrien. Stellen wir uns einen Ball vor, der perfekt symmetrisch ist: In welche Richtung man ihn auch dreht - er wird immer gleich aussehen. Und weil das so ist, können wir Folgendes voraussagen: Wenn wir ihn gerade auf die Erde fallen lassen, wird er gerade wieder hochspringen. Wäre die Natur durchweg so perfekt symmetrisch wie der besagte Ball, hätten alle Teilchen die gleichen Eigenschaften. Tatsächlich ist die Natur vielfältig, sie beruht auf gebrochenen Symmetrien. Das Problem ist: Mit mathematischen Gleichungen lässt sich beschreiben, welche Kräfte zwischen all den Teilchen in der Natur wirken und welches Verhalten daraus folgt - aber nur solange man davon ausgeht, dass die Teilchen keine Masse haben. Wenn aber alle Teilchen masselos wären, bewegten sie sich so schnell wie das Licht; sie würden sich nicht zusammenballen, es gäbe keine Sterne, Planeten und Menschen. Weil das Higgs der Theorie nach allen Teilchen ihre Masse verleiht, wäre der Nachweis dieses Partikels der letzte fehlende Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik, um die Vielfalt der Welt zu beschreiben.

Er würde sie aber nicht erklären.

Schleper : Das stimmt. Der Theorie zufolge ist der Kosmos erfüllt von einem sogenannten Higgs-Feld. Jedes Teilchen, das durch dieses Feld fliegt, wird aufgehalten, es wird dadurch langsamer und hat somit eine Masse. Warum das Higgs-Feld den Teilchen eine unterschiedliche Masse verleiht, warum also etwa ein Elektron 2000-mal leichter ist als ein Proton, bliebe durch den Nachweis des Higgs unklar. Hier kommen wir an die Grenzen der Physik.

Was, wenn das Higgs nicht existiert?

Schleper : Diese Erkenntnis würde zu einem Paradigmenwechsel führen. Ansätze gibt es schon. Womöglich entsteht die Masse dadurch, dass die bisher als Elementarteilchen gesehenen Partikel sich in Wirklichkeit aus mehreren Teilchen zusammensetzen, so ähnlich wie ein Atom. Man nennt diese Theorien Compositness oder Technicolor. Es wäre auch möglich, dass es neben den bekannten Dimensionen des Raumes und der Zeit weitere Raum-Zeit-Dimensionen gibt, die ähnliche Effekte hinterlassen wie jene, die wir in den Experimenten am LHC sehen. Aber auch wenn wir das Higgs aufspüren würden, blieben Fragen offen.

Welche nämlich?

Schleper : Nur etwa vier Prozent des Universums bestehen aus sichtbarer Materie. Wie sich der gewaltige Rest zusammensetzt, ist ein Rätsel. Erklärungen liefern könnte die Theorie der Supersymmetrie. Sie besagt, dass jedes der bisher entdeckten Elementarteilchen noch ein Partnerteilchen hat. Am LHC versuchen wir diese Teilchen zu erzeugen. In der Natur traten sie nur kurz nach dem Urknall auf. Das leichteste dieser Teilchen könnte allerdings noch existieren und etwa die Dunkle Materie bilden, die 23 Prozent des Universums ausmachen soll. Die Supersymmetrie würde aber noch viel mehr erklären. Wir sehen in den experimentellen Daten, dass die Stärke der Wechselwirkungen in der Natur scheinbar darauf hinausläuft, dass es bei sehr hohen Energien nur noch eine Naturkraft gäbe - aber nur, wenn man Supersymmetrie annimmt. Das ist absolut verblüffend. Ein Teilchen nachzuweisen, das die Supersymmetrie beweist, würde weit über die Entdeckung des Higgs hinausgehen.

Der Vortrag von Prof. Peter Schleper "Das Higgs-Teilchen - Eine Suche nach den Grenzen der Physik", 17.4., 20 Uhr, Baseler Hof Säle, Esplanade 15, der Eintritt ist frei. Anmeldung unter: www.awhamburg.de/veranstaltungen