Forscher prüfen, ob die Partikel tatsächlich mit Überlichtgeschwindigkeit fliegen können und damit Einsteins Relativitätstheorie entkräften.
Hamburg. "Ich glaube immer noch an einen Fehler", sagt Caren Hagner, Professorin für Experimentalphysik an der Universität Hamburg. Ihr geht es wie vielen Kollegen in aller Welt, sie steckt in einem Dilemma: Es kann eigentlich nicht sein, was nicht sein darf. Wären da nicht diese Daten. Diese verdammt genauen Daten. Hagner wird aber nicht von einer Entdeckung sprechen, solange nicht jedes noch so kleine Detail überprüft worden ist, denn es geht um ihn . Albert Einstein, Jahrhundert-Genie, Papst der Physik.
Knapp drei Monate ist es her, da veröffentlichten Physiker der Opera-Kollaboration in Italien Messungen, denen zufolge Neutrinos schneller flogen als das Licht. Diese subatomaren Partikel galten vor 20 Jahren als Exoten, heute sind sie die Stars unter den Elementarteilchen - sieht man einmal ab von den geheimnisvollen Higgs-Bosonen, denen Physiker am Cern auf der Spur sind. Neutrinos genießen so viel Aufmerksamkeit, weil sie besondere Eigenschaften haben: Sie tragen keine elektrische Ladung, reagieren deshalb nur selten mit anderen Teilchen und durchdringen so Materie meistens ungehindert. Wenn sie natürlich entstehen, etwa bei Sternenexplosionen (Supernovae), und dann durch das Weltall reisen, bleiben sie auf ihrer Bahn nahezu unbeeinflusst. Das macht sie zu idealen kosmischen Boten: Durch ihre Eigenschaften übermitteln sie Informationen über ihren Herkunftsort.
+++Forscher finden Hinweise auf Existenz von Higgs-Boson+++
+++Sind Neutrinos wieder schneller als das Licht?+++
Neutrinos besitzen nur eine sehr geringe Masse, deshalb sind sie fast genauso schnell wie die masselosen Lichtteilchen (Photonen), die 300 000 Kilometern pro Sekunde fliegen. Aber schneller? Eigentlich wollten die Physiker der Opera-Kollaboration messen, wie sich Neutrinos verwandeln. Doch bei der Datenanalyse fiel ihnen auf: Die Teilchen waren 60 milliardstel Sekunden schneller ins Ziel gekommen, als man es bei Lichtgeschwindigkeit annehmen würde. Ein unfassbar kurzer Vorsprung - aber: Nach Einsteins spezieller Relativitätstheorie dürfte dieser Effekt nicht möglich sein. Die oberste Tempogrenze im Universum markiert die Lichtgeschwindigkeit - das wurde immer wieder hochpräzise bestätigt.
Wie war das möglich? Im allgemeinen Trubel ging unter, dass einige Opera-Forscher die Veröffentlichung nicht unterzeichnet hatten, unter ihnen Caren Hagner, die mit ihrem Team einen Teil des Detektors gebaut hat, der die Neutrinos erfasst. Hagner hätte lieber länger nach systematischen Unsicherheiten, also möglichen Verfälschungen der Daten gesucht.
Ungeachtet solcher Zweifel diskutierten einige Forscher schon kurz nach der Veröffentlichung über mögliche Ursachen des Phänomens. Dabei waren der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Nur ein Beispiel: Wir kennen die drei Dimensionen des Raumes. Das Konzept der Raumzeit sieht eine vierte Dimension vor: die Zeit. Was aber, wenn es noch weitere Dimensionen gäbe? Könnten Neutrinos diese Strukturen als Abkürzungen in der Raumzeit nutzen und so die Lichtteilchen überholen? Man kann sich diese Idee sehr stark vereinfacht so vorstellen, als wäre das Universum die Oberfläche einer Kugel: Um von einer Seite zur anderen zu gelangen, müssen alle Verkehrsteilnehmer, das Licht und der Rest der Materie, über die Oberfläche spazieren, wobei das Licht am schnellsten vorankommt. Nur die Neutrinos können mitten durch und kommen so als Erste ins Ziel. Angenommen, sie wären tatsächlich mit Überlichtgeschwindigkeit unterwegs - wären dann Reisen in die Zukunft möglich?
In der Zwischenzeit wiederholten die Opera-Forscher ihr Experiment mit einer präziseren Methode. Bei der ersten Studie hatten sie die Startzeit der Neutrinos auf zehn millionstel Sekunden genau gemessen. Wie aber, monierten Kritiker, sollte sich dann im Abgleich mit der Ankunft die Flugzeit auf milliardstel Sekunden genau bestimmen lassen? Bei der zweiten Versuchsreihe erzeugten die Forscher erheblich kürzere Strahlenpulse, sodass sich die Startzeit der Teilchen auf zwei milliardstel Sekunden genau messen ließ. Wieder wurden die Neutrinos losgeschickt - und wieder kamen sie 60 milliardstel Sekunden über Lichtgeschwindigkeit ins Ziel.
Und nun ist das Dilemma da. Caren Hagner hat die zweite Veröffentlichung zwar unterzeichnet, zweifelt aber immer noch. Aus zwei Gründen: Erstens stehen die Opera-Daten im Widerspruch zu Messungen von natürlichen Neutrinos. 1987 beobachteten Forscher eine etwa 160 000 Lichtjahre von der Erde entfernte Sternenexplosion (Supernova 1987A). Dabei herausgeschleuderte Neutrinos kamen nahezu zeitgleich mit Photonen aus der Explosion auf der Erde an. "Würde der Opera-Effekt stimmen, hätten diese Neutrinos aber früher ankommen müssen", sagt Hagner. Zwar seien die für Opera künstlich erzeugten Neutrinos 1000-mal energiereicher gewesen als die Supernova-Neutrinos. Und normalerweise gilt für Elementarteilchen: je mehr Energie, desto schneller. Doch im Opera-Experiment hätten sich sowohl energiearme als auch energiereiche Neutrinos mit Überlichtgeschwindigkeit bewegt.
Also doch ein Fehler im System? Auch Physiker von der Konkurrenz grübeln noch. Dr. Alfons Weber, Teilchenphysiker an der Universität Oxford, bescheinigt den Opera-Forschern zwar, "eine sehr sorgfältige und genaue Analyse" durchgeführt zu haben. Mit der zweiten, erheblich genaueren Messung seien seine Bedenken verflogen. Dennoch müsse das Ergebnis erst durch unabhängige Messungen bestätigt werden. Weber ist beteiligt an "Minos" und "T2K", den beiden einzigen Projekten weltweit, die das Opera-Experiment wiederholen könnten.
Der Detektor von Minos steht 700 Meter unter der Erde in einer ehemaligen Eisenmine bei Soudan, einem Dorf im US-Bundesstaat Minnesota. Er empfängt Neutrinostrahlen, die ein Teilchenbeschleuniger im 735 Kilometer entfernten Labor Fermilab in Chicago erzeugt. Ab März 2012 soll der Beschleuniger für einen Umbau neun Monate lang abgeschaltet werden. Bis dahin wollen Weber und seine Kollegen zumindest schon neue Uhren am Detektor installieren, um ähnlich genaue Messungen durchzuführen wie ihre Kollegen von Opera. Doch erst mit dem verbesserten Beschleuniger werde Minos die gleiche Präzision erreichen, sagt Weber. Das Neutrino-Experiment T2K in Japan sei bisher nicht darauf angelegt gewesen, Geschwindigkeiten zu messen. Auch dessen Detektor müsse nun entsprechend angepasst werden.
Derweil sucht das Opera-Team weiter nach möglichen Fehlern. Es ist also Geduld gefragt - mindestens bis Mitte 2013: Erst dann dürfte klar sein, ob Albert Einstein tatsächlich irrte - oder recht behält.