Physiker am europäischen Kernforschungszentrum Cern finden neue Hinweise auf das Higgs-Boson, das vermutlich den Dingen ihre Masse gibt.
Hamburg/Genf. Ist das der lang ersehnte Durchbruch? Physiker am europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf haben "spannende Hinweise" auf das Higgs-Boson entdeckt, wie sie gestern mitteilten. Das auch als "Gottesteilchen" bekannte Partikel soll erklären, warum Materie eine Masse hat. Bereits 1964 von dem britischen Physiker Peter Higgs vorhergesagt, bildet es seit fast fünf Jahrzehnten das zentrale und das bis heute letzte unbewiesene Element des Standardmodells der Teilchenphysik.
Das Modell definiert fast alle Eigenschaften des Higgs-Bosons, lässt allerdings offen, welche Masse das Teilchen hat. Die Bereiche zwischen 0 bis 114 und oberhalb von 145 Gigaelektronenvolt (GeV) konnten die Physiker am Cern bei früheren Tests ausschließen; übrig blieb also der Bereich von 114 bis 145 GeV. Durch neue Daten aus Experimenten mit dem Teilchenbeschleuniger LHC lasse sich der Massebereich nun weiter eingrenzen, verkündeten die Forscher: Wenn das Higgs existiere, habe es wohl eine Masse zwischen 115 und 130 GeV. Noch sei es aber zu früh, von einer Entdeckung zu sprechen.
+++Ist das größte Rätsel der Physik bald gelöst?+++
Woraus besteht die Welt, die wir kennen? Physiker führen den Aufbau der sichtbaren Materie auf drei Sorten von subatomaren Partikeln zurück, zu denen etwa die Elektronen, Quarks und Photonen gehören. Mathematische Gleichungen können erklären, welche Kräfte zwischen den Teilchen wirken und welches Verhalten sich daraus ergibt - solange man davon ausgeht, dass die Teilchen keine Masse haben. Masselos sind tatsächlich aber nur Lichtteilchen (Photonen) und Gluonen. Wären alle Teilchen masselos, bewegten sie sich so schnell wie das Licht; es gäbe keine Zusammenballungen: keine Sterne, Planeten und Menschen.
Um dieses Dilemma zu lösen, ersann der britische Physiker Peter Higgs einen Mechanismus, durch den die Teilchen ihre Masse erhalten. Er wird oft verglichen mit einer Party; die Gäste bilden dabei das sogenannte Higgs-Feld. Plötzlich erscheint am Eingang unerwartet ein Popstar. Er möchte zur Bar am anderen Ende des Raumes, doch sofort scharen sich viele Gäste um ihn und machen ihn damit langsamer - so, als gewinne er an Gewicht. Das Higgs-Teilchen ist in dieser Analogie das Gerücht, ein Popstar sei im Anmarsch: Sofort sammeln sich Fans an der Tür. Das Gerücht pflanzt sich durch den Raum fort und verursacht damit eine wandernde Zusammenballung. Ohne das Higgs bräche das Standardmodell zusammen; dann müssten Physiker nach neuen Ansätzen suchen, um zu erklären, was die Welt zusammenhält.
In dem ringförmigen, 27 Kilometer langen Teilchenbeschleuniger LHC am Cern werden Protonen fast bis auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, gegenläufig losgeschickt und dann entlang der Strecke an vier Detektoren zur Kollision gebracht. Damit simulieren die Cern-Forscher Bedingungen, die so vermutlich kurz nach dem Urknall herrschten, als alle bekannten Partikel entstanden. In der künstlich erzeugten Teilchenschar sollte sich auch das Higgs verbergen. Es ist aber extrem kurzlebig und könnte je nach seiner Masse in unterschiedliche andere Teilchen zerfallen. Insofern lässt es sich nicht direkt, sondern nur anhand seines Zerfalls und der daraus rekonstruierbaren Masse erkennen. Entsprechend aufwendig ist die Suche: 2011 haben die Forscher mit dem LHC 400 Billionen Teilchenkollisionen analysiert.
Ungewöhnliche Ausschläge in den Messungen seien jeweils allein statistisch nicht bedeutender, als zweimal hintereinander eine Sechs zu würfeln, schreibt das Cern. Bemerkenswert an den neuen Messungen sei jedoch, dass die zwei voneinander unabhängigen Dektoren ATLAS und CMS eine Häufung von Ereignissen bei einer nahezu gleichen Masse registriert hätten, nämlich bei 124 GeV (CMS) und 126 GeV (ATLAS). Eingrenzen lasse sich die wahrscheinliche Masse des Higgs bisher aber nur auf den Bereich von 115 bis 130 GeV. "Wir brauchen noch mehr Daten, aber wir werden nicht mehr lange warten müssen: 2012 sollten wir das Puzzle zusammensetzen können", sagte ATLAS-Sprecherin Fabiola Gianotti.
"Das nächste Jahr wird spannend, aber es kann immer noch alles in beide Richtungen kippen", sagte Desy-Forschungsdirektor Prof. Joachim Mnich, der Mitglied des CMS-Teams ist. "Der Fund des Higgs-Teilchens wäre eine Entdeckung, sein Ausschluss wäre jedoch eine Revolution."