Warum haben Teilchen eine Masse? Das entdeckte Boson könnte die Frage beantworten. Sensationelle Entdeckung gilt als wissenschaftlich gesichert.
Genf/Berlin. Rund 6000 Forscher haben jahrelang danach gesucht und Billiarden von Teilchenkollisionen ausgewertet. „Wir haben ein neues Teilchen gefunden“, jubelt der Chef des Europäischen Kernforschungszentrums Cern, Rolf-Dieter Heuer, am Mittwoch in Genf, so viel sei sicher. „Es ist der Beginn einer langen Reise, alle seine Eigenschaften zu bestimmen“, sagt er. Zehntausende Interessierte weltweit folgen der Internet-Übertragung. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um das lange gesuchte Higgs-Teilchen, den letzten unbekannten Baustein der Materie.
Die Forschung verglich Heuer mit einem Menschen, der auf einen zukomme. Man sehe ihn von Ferne und erkenne ihn nach und nach womöglich als einen Freund. Zuletzt könne es sich aber immer noch um seinen Zwillingsbruder handeln. Das entdeckte Teilchen gehöre in jedem Fall zur gesuchten Teilchenfamilie der Bosonen. Ob es das Higgs-Teilchen des Standardmodells ist, könne man erst in einigen Jahren sagen, meint Heuer. Aber alle Eigenschaften, die bislang von ihm bekannt seien, stimmten mit denen des postulierten Higgs-Teilchens überein. Die Wahrscheinlichkeit für den Fehler, gar kein Teilchen gefunden zu haben, liegt laut Heuer bei etwa eins zu einer Million. Die Entdeckung gilt damit als wissenschaftlich gesichert.
+++ Das Higgs-Teilchen +++
+++ Warum Physiker das Higgs suchen +++
„Es ist ein Riesenschritt nach vorne“, meint der Forschungsdirektor des Deutschen Elektronen-Synchrotrons Desy in Hamburg, Joachim Mnich, der auch am Cern arbeitet. „Es zeigt, dass wir ein gutes Verständnis für die Welt entwickelt haben.“ Higgs gilt als Schlüssel zur Antwort auf eine fundamentale Frage: Warum haben Teilchen eine Masse? Das Standardmodell der Physiker besteht aus Materieteilchen, Kraftteilchen, doch die Masse fehlt bislang. Nach Vorstellung der Physiker durchzieht das Higgs-Feld das Universum wie ein unsichtbarer Sirup. Die Teilchen reiben sich daran und bekommen Masse. Das Feld zeigt sich den Physikern über das Higgs-Teilchen.
Heuer beschreibt das so: „Es ist, wie wenn ich ein Gerücht in einen Raum voller Journalisten flüstere.“ Sie würden zu einem deutlichen Haufen zusammenlaufen, der nachweisbar wäre, wie das Higgs-Teilchen. Je mehr Journalisten über das Gerücht berichten, „desto mehr Masse hat man“.
Trotz der Bedeutung des Higgs-Teilchens im physikalischen Weltbild möchten die Forscher nicht von einem Gottesteilchen sprechen, wie es oft genannt wird. „Nach meiner Meinung sind entweder alle Teilchen Gottesteilchen oder keins“, sagte Mnich kürzlich. Ohnehin war der Name ein Versehen. Der US-Physiker Leon Lederman wollte ein Higgs-Buch schreiben mit dem Titel „Das gottverdammte Teilchen – Wenn das Universum die Antwort ist, was ist die Frage?“. Sein Verleger habe jedoch das „verdammte“ aus dem Titel gestrichen, behauptet Lederman. So sei aus dem „Goddamm Particle“ 1993 das „God Particle“ geworden.
Heuer ist glücklich über das in seinen Augen rasche Ergebnis und darüber, dass die beiden Cern-Experimente Atlas und CMS unabhängig zum nahezu selben Ergebnis kommen. Doch es bleibt noch viel zu forschen: Nach Meinung vieler Physiker könnte es auch mehrere Higgs-Teilchen geben. Selbst wenn die Teilchen unserer Materie einmal komplett erklärt sind, kennen die Physiker erst vier Prozent vom Energieinhalt des Universums. Denn das besteht nach heutiger Kenntnis vor allem aus mysteriöser Dunkler Materie und Dunkler Energie. Auch die Anziehungskraft ist noch nicht komplett verstanden. Und dann gibt es noch die Frage, warum wir überhaupt existieren. „Diese Fragen wird man auch mit der Entdeckung der Higgs-Teilchen noch nicht lösen können“, meint Mnich.
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Grundlagenforschung ist teuer. Allein das Bundesforschungsministerium gibt als größter Finanzier mit jährlich rund 180 Millionen Euro etwa 20 Prozent der Mitgliedsbeiträge zum Cern-Haushalt. Die Wissenschaft sei das Geld aber wert, betont Heuer. Wenn man einen Sack Getreide habe, könne man ihn aufessen oder aussähen. „In beiden Fällen wird man verhungern.“ Es komme auf die Ausgewogenheit zwischen angewandter und Grundlagenforschung an. Zudem habe das Cern so wichtige Dinge wie das World Wide Web entwickelt.
Der britische Professor Peter Higgs (83), der 1964 zusammen mit Kollegen die nach ihm benannte Theorie aufstellte, hörte im Saal am Cern freudig zu. Er wollte keine großen Kommentare abgeben, meinte aber zur neuen Entdeckung: „Es ist wirklich unglaublich, dass dies während meiner Lebenszeit geschehen ist.“ Das habe er nicht erwartet. „Ich sollte mein Familie bitten, ein wenig Champagner kaltzustellen.“