Die Eisfläche am Nordpol schmilzt um 2,7 Prozent pro Jahrzehnt - und heizt die Erderwärmung weiter an. Das hat Folgen für Menschen und Tiere.
Die Arktis ist der empfindlichste Teil unseres Klimasystems: Das Schicksal der Eisfläche auf dem Nordpolarmeer wird mit entscheiden, wie stark die Menschheit unter den Folgen der Erwärmung leiden wird. Diesen Zusammenhang betonte der Hamburger Klimaforscher Prof. Hartmut Graßl auf dem 19. Meeresumwelt-Symposium, auf dem sich gestern und heute fast 400 Fachleute aus Wissenschaft, Bundesämtern und Politik in Hamburg treffen. Die Wechselwirkungen zwischen Meeren und Klima bildeten den Schwerpunkt des ersten Konferenztages.
Der Nordpol erwärmt sich stärker als alle anderen Erdregionen, aber auch in Nord- und Ostsee ist der Temperaturanstieg deutlich. "Die Nordsee ist an der Oberfläche heute zwei Grad wärmer als vor 20 Jahren. Und so wenig Meereis auf der Ostsee hatten wir seit 300 Jahren nicht mehr", sagte Monika Breuch-Moritz, Präsidentin des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrografie, das gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium das Symposium ausrichtet. In beiden Meeren beobachten Forscher bereits einen Wandel im Artenspektrum der Fischwelt, registrieren frühere Algenblüten und Verschiebungen innerhalb der marinen Nahrungskette. Doch die großen Effekte erwarten Klima- und Meeresforscher weiter nördlich.
Hartmut Graßl spricht von der "positiven Rückkopplung" durch das schmelzende Meereis: "Das Eis reflektiert bis zu 85 Prozent der Sonneneinstrahlung. Es wird durch die dunkelste aller natürlichen Oberflächen ersetzt, durch Wasser. Es reflektiert bei bedecktem Himmel nur sieben Prozent der Sonneneinstrahlung, bei wolkenlosem Himmel vier Prozent. Das heißt, der Ozean erwärmt sich deutlich stärker als das Meereis."
Das Eis habe auch Einfluss auf den Wärmetransport im Ozean und auf die Verdunstung, ergänzte Prof. Karin Lochte, Präsidentin des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung. Zudem bildet es einen wichtigen Lebensraum für spezialisierte Kleinstlebewesen: "Die Eisalgen sind für das Ökosystem Arktis wichtiger als die Eisbären, über die so viel gesprochen wird."
In der Arktis gingen pro Jahrzehnt 2,7 Prozent der Meereisfläche verloren, so Lochte. Szenarien der Klimaforscher ließen befürchten, dass das Nordpolarmeer Mitte dieses Jahrhunderts im Sommer eisfrei sein könnte. Diese Aussicht hat bereits einen politischen Run auf die Rohstoffe der Nordpolarregion ausgelöst. "Das zurückweichende Eis eröffnet auch der Fischerei neue Fanggebiete", sagte der Meeresbiologe Dr. Gerd Kraus vom Institut für Seefischerei des Von-Thünen-Instituts. "Das führt zu der Frage, wie die Fischereirechte in den arktischen Gewässern zu vergeben sind. Bislang besteht nur die Vorgabe, dass dort nachhaltig, also bestandserhaltend gefischt werden muss."
Die Umweltveränderungen durch menschliche Meeresnutzung stehen der Arktis erst noch bevor; in anderen Regionen sind sie allgegenwärtig. Sie stehen ebenfalls auf der Agenda des Symposiums, etwa die Belastung der Meere mit Plastikmüll, die Überfischung, der Beifang von Seevögeln und Walen in Fischernetzen oder das relativ neu erkannte Problem des Unterwasserlärms.
Doch der Klimawandel überschattet alle anderen Themen. "Wir müssen den Meeresspiegelanstieg im Auge behalten, denn die Vergangenheit zeigt, dass er nicht unbedingt linear verläuft, sondern dass es Sprünge geben kann", mahnte Karin Lochte. Und Hartmut Graßl warnte davor, bei der Diskussion um Klimafolgen "nur" bis zum Jahr 2100 zu schauen: "Wenn wir heute über einen Anstieg von einem halben oder einem dreiviertel Meter sprechen, dann blenden wir aus, dass wir schon viel mehr angestoßen haben. Bei einer Erwärmung von drei Grad Celsius wird der Meeresspiegel bis zum Jahr 2300 um 2,5 bis fünf Meter ansteigen."