Berlin. Kokain ist keine Elite-Droge. Der Konsum reicht in die Mitte der Gesellschaft. Eine Studie will untersuchen, wer zum Pulver greift.
In Folie eingeschweißt stehen sie auf Paletten: blaue, gelbe und goldfarbene Blechdosen mit der Aufschrift „Fox Colors“. Ihr Inhalt: harmlose Spachtelmasse – zumindest laut den Frachtpapieren. Doch Hamburger Zollbeamte sind nach einem Tipp ihrer Kollegen aus den Niederlanden skeptisch und durchleuchten den Lastwagen mit den Paletten genauer, der Mitte Februar per Containerschiff von Paraguay aus über Argentinien im Hamburger Hafen ankommt.
Zu Recht: Denn was die Fahnder schließlich in den 1700 Kanistern Spachtelmasse versteckt finden, ist Kokain. Insgesamt 16 Tonnen – der größte Kokainfund, der jemals in Europa sichergestellt wurde. Straßenverkaufswert laut Hamburger Zollfahndung: zwischen 1,5 und 3,5 Milliarden Euro.
Kokain-Handel steigt - Droge wird getarnt geschmuggelt
Der Rekordfund ist nur die Spitze ähnlich spektakulärer Schläge, die den Ermittlern in deutschen und europäischen Häfen wie Rotterdam oder Antwerpen in den vergangenen Jahren gelungen sind. Mal getarnt als Katzenstreu, mal in Bananenkisten.
Die Zahlen steigen: Noch 2017 stellte der Zoll allein in Deutschland laut Bundeskriminalamt mehr als acht Tonnen sicher. 2019 und 2020 waren es schon je mehr als zehn Tonnen. Der Hamburger Rekordfund Mitte Februar hat all das bereits jetzt weit übertroffen. Mehr zum Thema: Kokain-Handel in Deutschland weiter auf dem Vormarsch
Kokain-Konsum: Bundesweit bis zu 60.000 Menschen abhängig
Kopfschmerzen bereitet Behörden und Suchtexperten nicht nur die wachsende Kokainmenge, die über mafiös organisierte Clans auf dem deutschen Markt landet, sondern auch die offenbar stärkere Verbreitung des weißen Aufputschmittels in der Bevölkerung. Kokain sei mittlerweile „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, bestätigte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig (CSU), nach dem Hamburger Rekordfund. Lesen Sie auch: Drogenbeauftragte: „Kokain ist das Megathema geworden“
Laut Schätzungen seien „in Deutschland mittlerweile zwischen 40.000 und 60.000 Menschen kokainabhängig“, sagte Ludwig. Gestiegen sei der Koks-Konsum vor allem in der jüngeren Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen. Was fehlt, sind genauere Daten zum Konsum – und zu möglichen Veränderungen in der Corona-Pandemie.
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Hamburger Uniklinikum startet KOKOS-Studie zum Kokain-Konsum
Wo landet das eingeführte Kokain schlussendlich? Wer gehört zu den Konsumenten und was treibt diese Menschen dazu, sich am weißen Pulver zu berauschen? Um diese Fragen genauer zu beleuchten, hat das Bundesgesundheitsministerium die sogenannte KOKOS-Studie in Auftrag gegeben. Die großangelegte Untersuchung ist im April am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) angelaufen. Ergebnisse sollen im Herbst vorliegen.
„Es gibt diese Stereotype oder Klischees der eher privilegierten Kokain-Konsumierenden. Aber Tatsache ist: Wir haben gar kein gutes Gefühl dafür, welche Gruppen es in der Gesellschaft wirklich gibt“, sagt Studienleiter Professor Ingo Schäfer. Die Studie habe vorrangig das Ziel, tatsächliche Konsumentengruppen voneinander abzugrenzen und noch besser zu verstehen. „Insbesondere die, die gefährdet sind, einen riskanten oder abhängigen Konsum zu entwickeln“, sagt der Mediziner an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Auch interessant: Corona-Krise: So stark ist Burn-out-Gefahr zuletzt gestiegen
Greifen Alleinerziehende und gestresste Homeoffice-Arbeiter zum Aufputschmittel?
Schäfer will Ergebnisse keinesfalls vorwegnehmen. Dennoch gehe es etwa darum zu überprüfen, ob sich – ähnlich wie bei Alkohol und Nikotin – beim Kokain-Konsum Frauen den Männern stärker angenähert haben. Sind es neben Partygängern und gut betuchten Geschäftsleuten vielleicht heute vermehrt Berufstätige im Homeoffice oder Alleinerziehende, die angesichts von Leistungsdruck und Überforderung zum Aufputschmittel greifen? Lesen Sie auch:Familie in der Corona-Krise: Was gegen den Frust hilft
Schäfer berichtet von einer Studie zu Amphetaminen, bei der sich herausstellte, dass in bestimmten Regionen alleinerziehende Mütter phasenweise zu diesen Mitteln gegriffen hatten, „um irgendwie ihre multiplen Aufgaben und Sehnsüchte unter einen Hut zu bekommen. Wie kriege ich ein kleines Kind versorgt, kann berufstätig sein und trotzdem noch Spaß haben? Da war Crystal Meth eine Droge, die für diese Gruppe offenbar hilfreich war.“ Auch interessant: Corona und Rauchen: So gefährlich ist der Zigarettenqualm
Wie Crystal Meth ist auch Kokain kein harmloses Aufputschmittel. Regelmäßiger Konsum kann Blutgefäße und innere Organe schädigen, psychisch abhängig machen und zu psychischen Krankheiten führen, warnen Ärzte.
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Studie beleuchtet Pandemie-Effekte beim Kokainkonsum
Die KOKOS-Studie soll zudem wissenschaftlich untermauern, ob der Kokain-Konsum in der Corona-Pandemie eingebrochen ist, angesichts geschlossener Clubs, Bars und Konzertausfällen – oder sich lediglich ins Private verlagert hat: Koks-Konsum gegen den Corona-Koller?
Methodisch kombinieren die UKE-Forscher mehrere Ansätze: Geplant ist eine Online-Befragung unter konsumierenden Männern und Frauen in Deutschland, die neben den Motiven auch ermitteln will, welche Lebenssituationen dazu führen können, dass jemand in einen abhängigen Konsum abdriftet. Weitere Erkenntnisse sollen Interviews mit Expertinnen und Experten aus der Suchthilfe liefern.
Drittens will man Forschungs- und Dokumentationsdaten analysieren, die bereits zum Thema Kokain-Konsum vorliegen. Abschließend will das UKE die Ergebnisse mit Fachkräften aus Präventionsstellen diskutieren, um daraus entsprechende Empfehlungen für die Prävention und Hilfe vor Ort abzuleiten.
Das weiße Pulver hält Einzug in die Mitte der Gesellschaft
Präventionsarbeit, wie sie beispielsweise Referent Marc Pestotnik und das Team der Fachstelle Suchtprävention in Berlin leisten. Neben Aufklärungsarbeit bietet die Fachstelle eine freiwillige Erstberatung für Menschen, die Drogen jeglicher Art noch nicht abhängig konsumieren. Er erhofft sich von der KOKOS-Studie neue Erkenntnisse und sagt: „Den typischen Kokain-Konsumenten gibt es nicht.“
Die Droge habe auch seiner Erfahrung nach Einzug gehalten in die gesellschaftliche Mitte. „Die Anforderungen in unserer Höher-schneller-weiter-Gesellschaft sind enorm – und jetzt in der Corona-Zeit vielleicht sogar noch größer“, sagt Pestotnik. Auch interessant: Warum Stress krank macht und Stille die Gesundheit fördert
Kokain sei preislich stabil, der Reinheitsgehalt habe enorm zugenommen und das weiße Pulver lasse sich in der Wirkung gut steuern. „Für manche wird es dann zur Allzweckwaffe im stressreichen und anforderungsreichen Alltag.“ Umso wichtiger sei es, gerade jungen Menschen eine Klaviatur an alternativen Bewältigungsstrategien im Umgang mit Herausforderungen an die Hand zu geben – nicht nur in Pandemie-Zeiten.
Fakten zum Kokain-Konsum
- Beim Konsum illegaler Drogen liegt Cannabis bundesweit mit Abstand an der Spitze. Knapp jeder Zehnte (8,9 Prozent) zwischen 18 und 59 Jahren hatte 2018 in der Querschnittsstudie „ESA Survey“ angegeben, im zurückliegenden Jahr Cannabis konsumiert zu haben. Kokain (1,2 Prozent) lag etwa gleichauf mit Ecstasy und Amphetaminen. Europaweit sollen 2019 rund 4,3 Millionen Menschen Kokain konsumiert haben, schätzt die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht EMCDDA.
- Eine steigende Verfügbarkeit und sinkende Preise heizen laut Experten den Konsum an. Laut Bundesinnenministerium ist der „Straßenpreis“ pro Gramm in Deutschland von rund 76 Euro (2016) auf etwa 69 Euro (2019) gesunken.
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