Berlin. Kinder verbringen derzeit mehr Zeit vor Bildschirmen und sehen weniger Tageslicht. Experten fürchten, die Augen könnten Schaden nehmen.

Lange schon vor der Corona-Pandemie ist die Kurzsichtigkeit unter Kindern und Jugendlichen zu einem modernen Zivilisationsleiden geworden.

Die Zahl der Betroffenen stieg in den vergangenen Jahren weltweit, vor allem in Asien. Aber auch in Deutschland beobachteten Experten einen Anstieg der Fälle von Fehlsichtigkeit.

Nun fürchten einige Augenärzte, dass die Wochen und Monate des Lockdowns die Situation verschärfen könnten. Der Schulunterricht am Bildschirm, kaum Möglichkeit, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen, wenig Zeit im Freien bei Tageslicht – in der Pandemie häufen sich die Risikofaktoren für Kurzsichtigkeit.

China: Mehr Fälle von Kurzsichtigkeit bei Kindern

Aber reichen diese Monate aus, um die Augen von Kindern und Jugendlichen krankhaft zu verändern? Experten sind uneins.

Der erste und bislang auch einzige wissenschaftliche Hinweis auf eine Verschärfung der Situation kommt aus China.

Eine Untersuchung von 123.000 Schulkindern ergab, dass der Anteil der Kurzsichtigen pro Jahrgang bei den Sechsjährigen von 5,7 Prozent im Jahr 2019 auf 21,5 Prozent im Jahr 2020 angestiegen ist.

Bei den Achtjährigen beobachteten die Forscherinnen und Forscher einen Anstieg von 27,7 auf 37,2 Prozent. Die Ergebnisse sind im Fachblatt „Jama Ophthalmology“ veröffentlicht.

„Keine weitere Studie zu Kurzsichtigkeit“

Die Studie aus China sei trotz Schwächen interessant, findet Professor Wolf Lagrèze, Experte der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG). Doch lasse sie sich nicht einfach auf Deutschland übertragen.

„Ich glaube, dass der Lockdown in China viel strenger war als bei uns“, sagt Lagrèze, der als leitender Arzt an der Klinik für Augenheilkunde an der Uniklinik Freiburg arbeitet. Die Menschen seien in China praktisch in ihren Wohnungen eingesperrt gewesen.

„Natürlich kann man sich vorstellen, dass sich die Zeit zu Hause auf die Augen auswirkt. Aber bislang gibt es keine weitere Studie, die eine Auswirkung des Lockdowns zeigt.“ Er selbst, erzählt Lagrèze, habe als Arzt ein einziges Kind erlebt, bei dem sich der Verdacht der Kurzsichtigkeit durch den Lockdown erhärtet habe.

„Viel wichtiger wäre es derzeit, auf die seelische Gesundheit junger Menschen zu gucken, als auf die Kurzsichtigkeit. Ich würde dieses Thema aktuell nicht zu hoch hängen.“

Expertin: Lockdown verdirbt die Augen

Anders sieht es die Direktorin der Universitätsaugenklinik Münster, Professorin Nicole Eter. Sie geht davon aus, dass der Lockdown die Augen verdirbt. Und: „Diese, man kann sagen Lockdown-Kurzsichtigkeit, bleibt“, vermutet Eter.

„Wir beobachten schon seit Langem, dass die Kurzsichtigkeit von den Lebensbedingungen abhängt, und rechnen für jedes Jahr Ausbildung mit einer Verschlechterung der Sehkraft um 0,3 Dioptrien.“

Sprich: Wer viel lernt, viel liest, viel in der Nähe guckt, den Blick nicht schweifen lässt und wenig vor die Tür geht, schadet auf Dauer seinen Augen.

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Nicht allein das Handy macht kurzsichtig

Ein Szenario, wie es in der Pandemie wohl in vielen Haushalten zu beobachten ist. Freunde treffen ist tabu, der Sportverein hat geschlossen, die Schule auch. Es bleibt häufig der Blick auf den Laptop, das Tablet, das Smartphone – oder das Buch.

Denn es ist nicht allein das Handy, das Kinder kurzsichtig macht, weiß Lagrèze. „Auch wer sich mehrere Stunden ein Buch vor die Nase hält, tut den Augen keinen Gefallen.“

Das bestätigt Nicole Eter: „Wer in jungen Jahren, im Alter zwischen sechs und zehn Jahren, stundenlang liest und das noch bei schlechter Beleuchtung, bei dem steigt einfach das Risiko kurzsichtig zu werden.“

Geschlossene Spielplätze auch in Deutschland

Auch DOG-Experte Professor Alexander Schuster von der Augenklinik an der Uniklinik Mainz hält einen Lockdown-Effekt für möglich.

Sollte sich das Ergebnis der chinesischen Studie bewahrheiten, „ist von einer Zunahme der kindlichen Kurzsichtigkeit auch bei uns auszugehen, da wir im Frühjahr ebenfalls einen längeren Lockdown mit geschlossenen Schulen, aber auch geschlossenen Spielplätzen hatten“, wird Schuster in einer aktuellen Meldung der Fachgesellschaft zitiert.

Fehlendes Tageslicht spielt wichtige Rolle

Bei einer Kurzsichtigkeit, die meist im Grundschulalter beginnt, ist der Augapfel zu lang. In der Folge treffen sich die aus der Ferne einfallenden Lichtstrahlen schon vor der Netzhaut statt direkt darauf – entfernte Gegenstände erscheinen unscharf.

Dieses unscharfe Bild setzt den Anreiz für den Augapfel weiterzuwachsen. Ein Millimeter Augenlängenwachstum entspricht drei Dioptrien.

An der Entstehung der Kurzsichtigkeit, der sogenannten Myopie, sind einerseits die Gene beteiligt. Ein mindestens ebenso großer Anteil aber entfällt auf die Art, wie wir leben. Eine entscheidende Rolle spielt dabei fehlendes Tageslicht.

Mindestens eine Stunde täglich draußen spielen

Deswegen raten die Augenexperten dazu, möglichst viel Zeit im Freien zu verbringen. „Jedes Kind im Grundschulalter sollte viel und lange draußen spielen“, sagt Nicole Eter. „Mindestens eine Stunde am Tag.“

Schon zwei Stunden Tageslicht täglich halbierten das Risiko für Kurzsichtigkeit und weitere 40 Minuten minderten das Fortschreiten um 40 Prozent.

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Homeschooling: Schreibtisch nah ans Fenster stellen

Denn die Lichtintensität sei im Freien immer größer als drinnen, betont die Medizinerin. „Selbst an einem trüben Tag sind draußen noch 3000 bis 5000 Lux, die normale Helligkeit im Kinderzimmer entspricht üblicherweise 500 bis 1000 Lux.“

Tageslichtlampen könnten hier zwar theoretisch helfen, praktisch belegt sei das jedoch nicht. Außerdem sollten die Schreibtische der Kinder während des Homeschoolings möglichst in der Nähe großer Fenster stehen, „um die Leuchtdichte zu erhöhen“, sagt Lagrèze.

Nach einer halben Stunde in die Ferne schweifen

Wichtig ist es, regelmäßige Pausen beim Gucken einzulegen, raten die Experten. „Spätestens nach einer halben Stunde sollten die Augen in die Ferne schweifen, oder man schließt sie einfach mal für eine kurze Zeit“, sagt Wolf Lagrèze.

Auch der Abstand zu den Geräten ist wichtig. „Man sollte ein Handy oder Tablet nicht direkt unter die Nase halten“, sagt Nicole Eter. Je weiter der Abstand, desto besser.

Das gelte ebenso für den Fernseher. „Auch der Computer steht am besten weit weg, die Schrift ist meist auch größer.“ Trotzdem sei es wichtig, auch hier dem Auge Auszeiten zu gönnen und auch mal aus dem Fenster zu gucken.