Berlin. Jedes zehnte Kind leidet laut einem Report unter Neurodermitis. Oft sind Patientinnen und Patienten schlecht informiert und versorgt.
Rote Flecken, trockene, teils wunde Haut, Juckreiz – die zweijährige Anna Friedrich aus dem hessischen Marburg kämpft mit Neurodermitis, seit sie vier Monate alt ist.
Ihre Symptome sind typisch für das atopische Ekzem, so der Fachbegriff für die Hautkrankheit. Bis Annas Eltern wussten, dass ihr Kind an Neurodermitis leidet, hat es jedoch gedauert.
„Unser Kinderarzt hat Annas trockenen Bauch abgetan“, erzählt Helene Friedrich, Annas Mutter. „Wir waren letztlich selbst beim Hautarzt, als wunde Stellen hinzukamen.“
Neurodermitis hat sich zur Volkskrankheit entwickelt
Der Dermatologe diagnostizierte Neurodermitis und schickte die Familie zur Fachberatung. Die Erkrankung der Zweijährigen nehme der Kinderarzt bis heute nicht ernst, beklagt die Mutter.
Familie Friedrich ist kein Einzelfall. Die Versorgung von Neurodermitis-Patientinnen und -Patienten in Deutschland sieht Matthias Augustin kritisch.
Er ist Facharzt für Hautkrankheiten am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Mitherausgeber des aktuellen Neurodermitis-Reports von UKE, Techniker Krankenkasse und der Universität Bremen.
„Wir beobachten, dass viele Patienten nicht gut informiert und behandelt sind“, sagt Augustin. „Und das, obwohl sich Neurodermitis zur Volkskrankheit entwickelt hat.“ Gleichzeitig sei klar: Je besser die Aufklärung, desto besser der Krankheitsverlauf.
Jedes zehnte Kind unter 15 Jahren von Neurodermitis betroffen
In Deutschland ist laut dem Report rund jedes zehnte Kind unter 15 Jahren von Neurodermitis betroffen – bei den 15- bis 20-Jährigen noch rund jeder Zwanzigste. Damit ist Neurodermitis die häufigste chronische Erkrankung bei Kindern.
„In den letzten 30 Jahren hat Neurodermitis im Kindes-, aber auch im Erwachsenenalter deutlich zugenommen“, sagt Augustin. Seit 2017 lägen die Zahlen jedoch auf einem stabil hohen Niveau. Bei den Erwachsenen leiden laut dem Report gut drei Prozent an der Hautkrankheit.
„Da es mehr Erwachsene als Kinder gibt, sind insgesamt aber mehr Erwachsene betroffen“, betont Augustin. Außerdem gebe es eine Häufung der Fälle in Mitteldeutschland. An den Ursachen dafür werde gerade intensiv geforscht.
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Stressfaktoren sind häufigster Auslöser von Neurodermitis
Auch Anna Friedrichs Vater Stephan leidet an Neurodermitis. Doch er selbst spürt davon kaum etwas. Auch von Allergien ist er weitestgehend verschont. Er reagiert auf Gräserpollen und hat häufig sehr trockene Haut, bei Stress manchmal offene Stellen in der Armbeuge – mehr aber nicht.
„Es gibt Menschen, bei denen Neurodermitis erstmals im Alter von 70 Jahren ausbricht“, gibt Augustin zu bedenken. „Das ist leider keine Erkrankung, aus der man herauswächst.“
Stressfaktoren sind laut Augustin die häufigsten Auslöser von Neurodermitis-Schüben. Aber auch die Ernährung, die Wohnsituation – Stichwort Schimmel, Ruß und Hausstaubmilben – sowie jede Art von Allergie können eine wichtige Rolle spielen.
Die zweijährige Anna weiß: klopfen statt kratzen
Die Veranlagung zur Neurodermitis hat Stephan Friedrich an seine Tochter weitergegeben. „Durch intensive Basispflege haben wir die Krankheit heute bei Anna zum Glück gut im Griff“, erzählt Helene Friedrich.
„Bei unserer Tochter treten die Schübe meist nur noch im Sommer auf, wenn sie stärker schwitzt.“ Anna wisse mit ihren zwei Jahren aber bereits, dass sie, statt zu kratzen, besser auf die Haut klopfen soll, wenn es juckt. Auch das Eincremen fordere die Kleine selbstständig ein, so die Mutter.
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Reha-Aufenthalt wird von der Kasse bezahlt
Worauf es bei Neurodermitis ankommt, haben Annas Eltern in der Neurodermitis-Akademie gelernt – einem dreitägigen ambulanten Schulungsprogramm. „Hier wurde uns auch die Scheu vor Cortison genommen“, erzählt Helene Friedrich. Der Austausch und die Tipps hätten ihnen sehr geholfen.
„Für mich ist es nicht plausibel, dass diese ambulanten Schulungsprogramme nicht einheitlich in die Kostenerstattung der gesetzlichen Krankenversicherungen aufgenommen werden“, sagt Augustin.
Betroffenen empfiehlt er – genau wie die Deutsche Dermatologische Gesellschaft (DDG) – daher als Alternative einen Reha-Aufenthalt. Der würde auf Antrag schon heute gezahlt.
Cortison: Nicht mehr immer das Mittel der Wahl
„Bei Neurodermitis ist das Engagement der Erkrankten beziehungsweise der Eltern enorm wichtig“, sagt DDG-Sprecher Peter Elsner. „Dazu bedarf es einer guten und umfassenden Aufklärung.“ Die positiven Effekte ambulanter Schulungsprogramme seien laut Studien immens, so Elsner.
Insgesamt habe sich in den letzten Jahren in der Neurodermitis-Forschung einiges getan, berichtet Elsner. „Es sind viele neue Neurodermitis-Medikamente und wirksame Therapien dazugekommen“, erklärt der Direktor der Klinik für Hautkrankheiten in Jena. Oft sei Cortison nicht mehr das Mittel der Wahl – gerade bei anhaltenden Problemen.
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Regionale Unterschiede beim Einsatz moderner Medikamente
Gleichzeitig beklagt Elsner, dass die bei Erwachsenen gut wirksamen Alternativen für Kinder immer noch nicht ausreichend erforscht seien. Neue Medikamente könnten daher bei jungen Patienten oft nicht eingesetzt werden.
Hinzu kommen laut dem Neurodermitis-Report starke regionale Unterschiede beim Einsatz moderner, leitliniengerechter Arzneimittel.
Betroffene sollten sich selbst gut informieren
„Zusätzlich brauchen wir bei Neurodermitis dringend einen stärkeren interdisziplinären Ansatz“, fordert der DDG-Sprecher. „In ganz Deutschland müssen wir Kinderärzte, Dermatologen, Krankenschwestern und Psychotherapeuten bei der Behandlung ins Boot holen.“
Alle müssten gemeinsam an einem Strang ziehen. „Meine wichtigste Botschaft an die Betroffenen ist, dass sie sich selbst gut informieren“, ergänzt Augustin vom UKE.
„Außerdem sollten Patientinnen und Patienten den Mut haben, den Arzt offen auf neue Medikamente und Therapiemöglichkeiten anzusprechen, von denen sie beispielsweise in den Leitlinien gelesen haben.“
Sei dieser nicht zu einem offenen Austausch bereit, rät Augustin zu einem Arztwechsel.