Bundesregierung reagiert auf die Krise – aber nicht beherzt genug. Sie wird noch manche unbequeme Entscheidung treffen müssen.
Olaf Scholz gehört, zurückhaltend formuliert, nicht zu den ganz großen Rhetorikern im Land. Und doch könnte seine Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 eines Tages in die Geschichtsbücher oder Sammelbände wie „Reden, die die Welt bewegten“ eingehen. Damals sagte der Hamburger, der zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 81 Tage Kanzler war: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ Der Tag, an dem Russland die Ukraine überfiel und die Nachkriegsordnung in Europa sprengte.
Als ersten Schritt räumte der Sozialdemokrat die Sparpolitik bei der Verteidigung ab. Ein Investitionsprogramm in Höhe von 100 Milliarden Euro – etwas missverständlich „Sondervermögen“ getauft – soll die lange Jahre sträflich vernachlässigte Bundeswehr wieder kampffähig machen. Zudem, so versprach Scholz, werden von jetzt an mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investiert. Hartnäckig hatte seine Partei dieses NATO-Ziel hintertrieben, nun hatte der Kanzler radikal umgesteuert.
Und das gilt nicht nur für die SPD: Die Grünen haben in einer Geschwindigkeit ihre pazifistischen Wurzeln gekappt, dass manchem Beobachter schwindelig wird. Ihr Wirtschaftsminister Robert Habeck bringt in Rekordgeschwindigkeit Flüssiggasterminals auf den Weg und lässt sich von klagenden Umweltverbänden nicht beirren; die Grünen bringen alte Kohlekraftwerke ans Netz und tragen nun sogar eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke mit, wenn auch nur um dreieinhalb Monate. Wer dieser Regierung Hasenfüßigkeit, Zaudern oder Zögern vorwirft, ist nicht ganz fair.
Kanzler Scholz: Sparstrümpfe statt Spendierhosen
Zugleich gilt aber – all die Schattensprünge und Kurskorrekturen werden noch lange nicht ausreichen. Die Zumutungen des Notwendigen werden in den kommenden Wochen und Monaten noch bitterer – die Regierung, die mehr „Fortschritt wagen“ wollte, muss nun vor allem den Rückfall in längst vergangen geglaubte dunkle Zeiten verhindern. Politik ist manchmal ein grausames Geschäft: In den Goldenen Zehnerjahren konnte die Kanzlerin Merkel aus dem Vollen schöpfen, in den düsteren Zwanzigerjahren muss ein Kanzler Scholz den Mangel verwalten. Nach den Spendierhosen wird Berlin bald Sparstrümpfe tragen müssen.
So weit allerdings ist die Wirklichkeit offenbar noch nicht in alle Ministerien eingedrungen: In vielen Politikfeldern, ob der Energiepolitik, der Migrationspolitik oder der Arbeitsmarktpolitik, stecken die Ampel-Parteien in einem Wolkenkuckucksheim fest, das seit dem 24. Februar endgültig Illusion ist. Und auch viele Bürger ahnen nicht einmal, welche Veränderungen für das Leben und den Wohlstand der Deutschen aus der viel beschworenen Zeitenwende resultieren.
Energiekrise: Deutschland sitzt auf dem Trockenen
Die Energiewende, eine von vielen dramatischen Fehlentscheidungen der Merkel-Ära, ist längst ins Schlingern geraten. So wie geplant, kann und wird sie niemals funktionieren: Im Koalitionsvertrag war etwas vage von der „Errichtung moderner Gaskraftwerke“ die Rede, um Kohle und Atom zu ersetzen und den Ausbau der Erneuerbaren zu flankieren.
Experten, die nachgerechnet haben, sprachen von einem gigantischen Zubau. Je nach Forschungsinstitut schwanken die Zahlen zwischen 40 und 100 neuen Gaskraftwerken: Die Deutsche Energieagentur hält einen Zubau in Größe von 15 Gigawatt für nötig, das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität Köln sprach von 23 Gigawatt, und die Boston Consulting Group kalkuliert gar mit 33 Gigawatt, was mehr als 100 neuen Gaskraftwerken der 300-Megawatt-Klasse entspräche. Und jetzt? Ist die Brücke Gas, die uns ins nachfossile Zeitalter bringen sollte, eingestürzt.
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Das liegt nicht nur daran, dass Russland als größter Lieferant dauerhaft ausfällt – selbst im besten Falle eines Rückzugs der Russen aus der Ukraine sind drei von vier Röhren der Nord-Stream-Pipelines zerstört. Deutschland sitzt auf dem Trockenen. Schlimmer noch – das Gas ist derzeit kaum finanzierbar. Auch wenn der Preis inzwischen wieder etwas zurückgegangen ist, liegt er noch immer bei einem Vielfachen im Vergleich zur Vorkriegszeit.
Und manches deutet darauf hin, dass sich daran kaum etwas ändert. In den vergangenen Tagen machten Meldungen die Runde, wonach rund 30 volle Flüssiggastanker vor den europäischen Häfen warten. Die „Financial Times“ mutmaßt: „Die Händler, die die Tanker kontrollieren, warten auf höhere Preise in den kommenden Monaten, wenn die Temperaturen über den Winter abkühlen und die Erdgasschwemme in Europas Speichern abgebaut wird.“ Volle Speicher und milde Temperaturen verhageln ihnen bislang ein Riesengeschäft. Aber die Hauptexporteure Katar, Australien und die USA haben Zeit – und eben zur Not andere Kunden in Asien …
Das Land und seine Wirtschaft bleiben verwundbar
Das alles zeigt – Deutschland hat die Abhängigkeiten zwar reduziert, bleibt aber verwundbar. Und bislang weigern sich die Parteien abgesehen von der FDP, überhaupt über die Erschließung und Förderung eigener Gas-Quellen in Gesteinsschichten in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen nachzudenken. So weit geht die Zeitenwende nicht. Noch nicht.
Auch der Atomkompromiss könnte noch vor dem Auslaufen der Meiler von der Wirklichkeit aufgekündigt werden – die Wirtschaftsweisen als Regierungsberater empfehlen schon einen Weiterbetrieb. Eine Verlängerung der Laufzeiten über den 15. April 2023 hinaus könnte „zu einer Entspannung des Strommarkts beitragen“ und die Preise senken. Die Debatte ist also nur aufgeschoben.
Auch die Möglichkeiten der Finanzpolitiker sind begrenzt, die Kostenexplosion für Bürger und Unternehmen wieder einzufangen, so viele Bazookas und Doppel-Wumms liegen nicht in irgendwelchen Geldspeichern in Berlin herum. Derzeit zahlen die Generationen von morgen die Rechnungen von heute – besonders nachhaltig ist das nicht.
In Europa wird die Bundesrepublik zum Schlusslicht
„Aufgrund seines vorzeitigen Ausstiegs aus der Kernenergie, seiner Weigerung, Fracking im eigenen Land zuzulassen, und seiner früheren übermäßigen Abhängigkeit von Russland dürfte Deutschland mehr leiden als die meisten anderen Länder“, sagt Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding. Auch die Wirtschaftsweisen erwarten im kommenden Jahr vor allem wegen der Energiekrise einen Rückgang der Wirtschaftsleistung in Deutschland. In Europa wird die Bundesrepublik zum Schlusslicht.
Billiges Gas als Schmierstoff der deutschen Industrie gibt es nicht mehr. Damit droht langfristig eine Deindustrialisierung. Möglicherweise geht sie nur schleichend vonstatten, könnte aber schnell unumkehrbar sein: Wer investiert hierzulande noch in energieintensive Fertigungsstätten, wenn Strom und Gas viel teurer sind als anderswo?
So bremsen die hohen Energiepreise den Bau der gefeierten Batteriefabrik von Northvolt in Schleswig-Holstein. „Die Fabrik in Heide könnte sich verzögern“, erklärte Northvolt-Chef Peter Carlsson unlängst der „FAS“. „Mit den aktuellen Strompreisen sehen wir die Wirtschaftlichkeit von energieintensiven Projekten in Deutschland gefährdet.“ Als möglichen Alternativstandort bringt Carlsson die USA ins Gespräch.
Standort USA profitiert vom Ukraine-Krieg besonders
Auch Tesla priorisiert die Fertigung von Batterien nun in den USA. Bei aller Freundschaft: Ökonomisch sind die USA Europas Rivale – und setzen das Konzept „America First“ auch unter Joe Biden sehr lässig, mitunter rüde um. Es ist der Standort USA, der vom Ukraine-Krieg besonders profitiert. Und man sollte sich nicht täuschen – die transatlantischen Beziehungen würden durch eine neuerliche Präsidentschaft von Donald Trump erschüttert werden. Auch wenn dies nach den Midterm-Wahlen unwahrscheinlicher geworden ist, ausschließen kann niemand die nächste Zeitenwende im November 2024.
Die vielen Krisen könnten rasch ein anderes Handeln erzwingen, wenn es die Industrie trifft, Massenentlassungen kommen und die Gewerkschaften rebellieren.
Angesichts der aufziehenden Herausforderungen überrascht es, dass die Ampel an ihren Herzensprojekten festhält, als sei nichts geschehen. Besonders deutlich wird dies bei der Einführung des Bürgergeldes und der Migrationspolitik. Auch wenn inzwischen Dutzende von Beispielrechnungen davor warnen, dass sich nach der Einführung des Bürgergeldes eine schlecht bezahlte Arbeit nicht mehr lohnt, soll die Mammutreform kommen. In guten Zeiten mag das Bürgergeld einen Versuch wert sein, in schlechten Zeiten aber ist es riskant. Denn es konterkariert die mutige wie richtige Erhöhung des Mindestlohns.
Das Bürgergeld ist eine gute Idee, aber es kommt nun zur falschen Zeit
Auf der einen Seite drohen die staatlichen Transferzahlungen immens zu steigen, auf der anderen Seite könnten sich manche Beschäftigte aus dem Berufsleben zurückziehen. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Fachkräftemangels wäre das eine gefährliche Entwicklung. Und auch wenn nicht zu Unrecht auf die Demografie verwiesen wird – ein Teil des Arbeitskräftemangels ist hausgemacht: So hat der Gesetzgeber den früheren Ausstieg etwa mit der Rente nach 45 Berufsjahren versüßt. Und vielen Beschäftigten ist inzwischen Teilzeitarbeit lieber – was auch in Zeiten der Krise finanzierbar bleibt, weil der Staat großzügig Mehrkosten für Strom und Gas übernimmt. Schon die Forderung, in schweren Zeiten mehr zu arbeiten, gilt als unanständig. Ein Land aber, das Work-Life-Balance zum wichtigsten ökonomischen Prinzip erklärt, kann schnell aus dem wirtschaftlichen Gleichgewicht geraten.
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Da wird auch keine Einwanderung helfen. Hier setzt die Ampel voll guten Willens unverdrossen falsche Signale. Man möchte den Zuwanderern das Leben erleichtern – und lockt immer mehr nach Deutschland. Es wundert hierzulande offenbar nur noch wenige Politiker, dass Tausende Migranten illegal aus der Schweiz einreisen – dem reichsten Staat Europas und nicht für Verfolgung von Minderheiten bekannt. Achselzuckend dürfen auch Asylbewerber gegen europäische Vereinbarungen in Deutschland einen zweiten Asylantrag stellen. Allein aus Griechenland kamen so 50.000 anerkannte „Flüchtlinge“. 135.000 Menschen stellten in den ersten neun Monaten erstmals einen Asylantrag in Deutschland, hinzu kommen rund eine Million Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland gekommen sind, Frankreich nahm nur 100.000 Menschen auf.
Eine weitere Flüchtlingskrise könnte das Land noch weiter spalten
Die Bereitschaft zu helfen ist gottlob hierzulande sehr ausgeprägt. Aber eine Einwanderung in die Sozialsysteme birgt Probleme. Auch hier hat die Bundesregierung viele, womöglich zu viele Anreize gesetzt: So bekommen Ukrainer seit Juni Hartz-IV-Leistungen und damit mehr als Asylbewerber. Und nur wenige mutige Politiker beklagen diese Bevorzugung, wie etwa der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. In der verständlichen Abgrenzung zur AfD wird das Problem klein- oder schöngeredet oder beschwiegen. Doch die Zahlen steigen weiter.
Das birgt Gefahren – die Flüchtlingskrise 2015 spaltet die deutsche Gesellschaft bis heute. Die Integration von mehr als einer Million Zuwanderer aus dem Nahen und Mittleren Osten hat besser funktioniert, als Pessimisten unkten, aber weniger gut, als Optimisten versprachen. Viele Unternehmen freuen sich über junge Migranten als Auszubildende. Aber im vergangenen Jahr waren noch zwei Drittel aller Syrer auf Leistungen aus der Grundsicherung angewiesen. Zum Vergleich: Bei den Deutschen liegt diese Quote bei 5,9 Prozent.
Anders als vor sieben Jahren trifft die Migration Deutschland nicht in einer ökonomisch starken Phase, sondern in einer Krise. „Wenn auf dem Wohnungsmarkt oder wegen der Kita-Plätze eine Konkurrenzsituation entsteht, könnte die Stimmung kippen“, warnt Palmer. Die Unruhe – gerade im Osten – wächst, und rechte Rattenfänger versuchen, diese Ängste zu schüren. Es gilt der kluge Satz von Joachim Gauck: „Unsere Herzen sind weit. Aber unsere Möglichkeiten endlich.“ Wachsende Zuwanderung in die Sozialsysteme könnte die finanziellen Forderungen an den Staat überdehnen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt erodieren lassen.
Kanzler Scholz: Bald eine „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede?
Die Stabilität des Landes und die Zufriedenheit mit dem politischen System sind eng mit dem Auf- und Ausbau des Wohlfahrtstaates verbunden. Die Bundesrepublik hat keinen verbindenden Gründungsmythos, aber ein Erfolgsversprechen von Jahrzehnten. „Unsere bundesrepublikanische Demokratie stützt sich im Wesentlichen auf den gegenwärtigen Erfolg des Sozialstaates“, sagt Klaus von Dohnanyi. „Die Frage, die mich umtreibt: Sind wir in großen Wirtschaftskrisen also politisch verletzlicher?“
Einer seiner Nachfolger formulierte es anders: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Für eine Regierung, die viele Reformen anstoßen wollte, ist das eine bittere Erkenntnis. Aber eine, an der sie nicht vorbeikommt. Es wird Zeit, dass alle dies verinnerlichen. Möglicherweise muss Olaf Scholz schon bald eine „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede halten. Oder Gerhard Schröder zitieren: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und Eigenleistung von jedem Einzelnen einfordern.“ Der Rhetoriker Scholz wird noch gebraucht.