Jürgen Walter galt einmal als das größte Talent der hessischen SPD. Er war Mitte 30, als er Fraktionsvorsitzender im Landtag und stellvertretender...
Darmstadt. Jürgen Walter galt einmal als das größte Talent der hessischen SPD. Er war Mitte 30, als er Fraktionsvorsitzender im Landtag und stellvertretender Landesvorsitzender wurde. Da machte er richtig große Politik, etwa als Obmann im Untersuchungsausschuss zum Schwarzgeldskandal der hessischen CDU. Immer wieder legte er sich mit Ministerpräsident Roland Koch an.
Jürgen Walter spricht gern über diese Jahre. Sie sind noch gar nicht allzu lange her. Politisch gesehen waren es seine besten. Dieses Jahr könnte - politisch gesehen - das schlimmste werden: Dem einstigen Hoffnungsträger droht die Verbannung aus seiner politischen Heimat. Den Ausschluss Walters haben 19 SPD-Ortsvereine beantragt. Heute wird ein Parteirichter des SPD-Unterbezirks Wetterau in Nidda darüber entscheiden.
Jürgen Walter ist erst 40 Jahre alt. Er hätte jetzt Minister unter Andrea Ypsilanti sein können. Er entschied sich lieber dafür, Ypsilanti als Ministerpräsidentin zu verhindern: Am 3. November 2008 - einen Tag vor der geplanten Wahl Ypsilantis - verweigerte er gemeinsam mit den Abgeordneten Carmen Everts und Silke Tesch der SPD-Landeschefin die Gefolgschaft. Zusammen erklärten sie: "Wir können die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung mit den Stimmen der Linkspartei nicht mittragen." Im März 2008 hatte bereits Dagmar Metzger als erste SPD-Abgeordnete erklärt, dass sie sich aus Gewissensgründen bei der Wahl Ypsilantis der Stimme enthalten wolle.
Nach der Erklärung der Abweichler kam es zu Neuwahlen. Das Ergebnis: Roland Koch regiert weiter. Andrea Ypsilanti ist nur noch einfache Abgeordnete im Landtag. SPD-Chef und Fraktionsvorsitzender ist ihr politischer Zögling Thorsten Schäfer-Gümbel. Generalsekretär ist der Ypsilanti-Vertraute und Bundestagsabgeordnete Michael Roth. Die politischen Karrieren der Abweichler sind beendet. Sie wurden nicht mehr von der SPD aufgestellt. Jürgen Walter ist der Erste von ihnen, der vor den Parteirichter muss. Auch gegen Everts und Tesch laufen Parteiordnungsverfahren in ihren jeweiligen Unterbezirken.
Walter ist in seinen Ursprungsberuf des Rechtsanwalts zurückgekehrt. In seiner Kanzlei im Städtchen Gernsheim bei Darmstadt hat er sich akribisch auf das Parteiordnungsverfahren vorbereitet. Er will um jeden Preis um seine Mitgliedschaft in der SPD kämpfen. "Ich ziehe bis vor das Bundesverfassungsgericht, wenn es sein muss", sagt Walter. "Hier geht es nicht allein um mich, sondern um die Klärung der Frage, ob eine Partei einen Abgeordneten dafür maßregeln darf, wenn er von seinem freien Mandat Gebrauch macht."
Auch Carmen Everts will zur Not das höchste Gericht anrufen: "Ich werde keine Sanktionen akzeptieren. Zur Not gehe ich bis vor das Bundesverfassungsgericht. Es geht um die Grundsatzfrage, ob die Verfassungsrechte und das freie Mandat der Abgeordneten geschützt sind."
Jürgen Walter hat in seinem Fall auch die Bundestagswahl im Blick und die möglichen Konsequenzen für die SPD-Abgeordneten, falls es rechnerisch für eine rot-grüne Regierung mit Tolerierung der Linken reicht: "Ich möchte, dass auch nach der Bundestagswahl die SPD-Bundestagsabgeordneten bei möglicherweise ebenfalls schwierigen Mehrheitsverhältnissen zu ihrem Wort stehen können und einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei nicht zustimmen."
Unterstützung erhalten die Abweichler von Parteienforscher Ulrich von Alemann, Professor an der Universität Düsseldorf. "Es wäre zu begrüßen, wenn die Grundsatzfrage zum Abgeordnetenmandat vom Bundesverfassungsgericht geklärt werden könnte", sagte von Alemann dem Abendblatt. "Abgeordnete dürfen nicht gezwungen werden, gegen ihr Gewissen etwas zu tun, was sie nicht wollen." Von Alemann kritisierte die Parteiordnungsverfahren: "Es wäre töricht von der SPD in Hessen, wenn sie die internen Kritiker alle ausschließen würde." Die Hessen-SPD müsste "ein großes Interesse daran haben, dass sie die Partei breit aufstellt, verschiedene Meinungen akzeptiert und nicht nur den Durchmarsch der Linken innerhalb der Partei zulässt". Das ehemalige SPD-Mitglied Wolfgang Clement drückte es drastischer aus: "Jemand, der von der Linie abweicht und nicht jeden Satz unterschreibt, der von der jeweiligen Führung gesagt wird, der wird ausgeschlossen. Das ist geradezu ein wirklich sektiererisches Verhalten", sagte der Ex-Wirtschaftsminister.
Jürgen Walter hat wie auch die drei anderen Abweicherlerinnen politisch alles aufs Spiel gesetzt - und in seinen Augen gewonnen: "Heute bin ich stolz auf meine Entscheidung. Das war kein Verrat, das war Zivilcourage", sagt er. "Ich erhalte noch immer Zuschriften von Menschen, die schreiben, wir hätten ihnen wieder etwas Vertrauen in die Politik zurückgegeben." Und doch muss er zugeben: "Die Wunden sind noch offen. Ich habe in der SPD sehr viel Lebenszeit verbracht." Die größte Wunde ist eine andere: "Ich vermisse die Politik."