Bundesverfassungsgericht verhandelt heute über ESM und den Fiskalpakt. Noch nie zuvor gab es so viel Druck auf die Juristen aus Karlsruhe.
Berlin/Karlsruhe. Schelte aus der Regierung gehört zur Geschichte des Bundesverfassungsgerichts wie die roten Roben zu den Richtern. Das öffentliche Kräftemessen zwischen Exekutive und Judikative begann schon in den 50er-Jahren mit einem Streit über den Beitritt Deutschlands zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.
20 Jahre später, als Willy Brandts Ostpolitik vor dem Gericht verhandelt wurde, zürnte der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner unerreicht deftig über die Richter unter Vorsitz des Präsidenten Ernst Benda: "Wir lassen uns doch von den Arschlöchern in Karlsruhe nicht unsere Politik kaputt machen."
+++ Fiskalpakt und ESM - darum geht es im Prozess +++
Diese Reibereien sind quasi im Grundgesetz angelegt: Was Regierung und Bundestag im Gesetzgebungsverfahren auf den Weg bringen, kann vom Verfassungsgericht mit einem Federstrich kassiert werden. Die 16 Richter haben die Macht, jede Regelung mit dem Hinweis aufzuhalten, sie überschreite die im Grundgesetz angelegten Leitplanken. Über Karlsruhe, so lautet ein Spruch in der Residenz des Rechts, stünden nur noch der blaue Himmel und der liebe Gott.
In diesen Tagen erreicht das Kräftemessen der Verfassungsorgane eine neue Qualität. Noch nie wurde von so vielen Seiten an den Richterroben gezerrt. Die Kanzlerin, der Präsident des Bundestags, Abgeordnete aus Bundestag und EU-Parlament sowie eine Schar von Staatsrechtlern versuchen, Druck auf die Verfassungshüter auszuüben.
Es geht um eine Entscheidung, die alle Beteiligten als richtungweisend für die Zukunft des deutschen Gemeinwesens bewerten. Wie weit darf die europäische Integration gehen, ohne die demokratische Substanz der Bundesrepublik auszuhöhlen und Kernbereiche deutscher Staatlichkeit aufzugeben? Das ist die eine Frage. Die andere lautet: Muss vielleicht sogar ein neues Grundgesetz her?
Mit dem vom Parlament auf Betreiben der Regierung am 28. Juni beschlossenen Euro-Gesetzespaket sieht eine ganze Reihe von Klägern den von Karlsruhe gezogenen rechtlichen Rubikon nun überschritten. Sie wenden sich gegen die Einführung des dauerhaften Rettungsschirms ESM, des europäischen Fiskalpakts sowie die Aufweichung der sogenannten No-Bailout-Klausel in den europäischen Verträgen, die eine Übernahme von Schulden durch andere Staaten ausschließt.
Kaum hatten ESM und Co. den Bundestag passiert, nahmen die Befürworter der Gesetze die Richter ins Visier. Hans-Gert Pöttering, Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung, hatte zwei Juristen aus Karlsruhe zur rechtspolitischen Konferenz seines Hauses geladen: den Vizepräsidenten des Gerichts, Ferdinand Kirchhof, und Herbert Landau, Mitglied des Zweiten Senates, der heute erstmals über die Klagen verhandelt. Pöttering (CDU) las ihnen gründlich die Leviten. Die von Karlsruhe in früheren Urteilen entwickelten Grenzlinien zur europäischen Integration könne er dem Grundgesetz nicht entnehmen, sagte der Gastgeber. Das vom Gericht behauptete Demokratiedefizit in der EU gebe es so nicht, stattdessen aber eine "gewisse Geringschätzung des EU-Parlaments" durch die deutschen Richter. Die hätten einen verengten Blick und hätten die Chance, "das Demokratieprinzip im europäischen Kontext weiterzuentwickeln, bislang leider nicht in ausreichendem Maße genutzt". Starker Tobak.
Zu stark für Kirchhof, der entgegnete: "Das war etwas viel, Herr Pöttering!" Der Richter nannte die Rede des CDU-Politikers "nicht angemessen" und mahnte einen anderen "Stil der Auseinandersetzung" an. Im Plenum der Konferenz aber ging es weiter hoch her. Die Ankündigung von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), schon in naher Zukunft könnte eine Volksabstimmung über einen europäischen Bundesstaat anstehen, wurde von Diskutanten als Versuch eines "Staatsstreichs" eingeordnet. Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio konterte, er halte das alles für eine "Phantomdebatte".
Tatsächlich lässt sich Schäubles Bemerkung wohl eher als ein Mosaikstein des Bemühens verstehen, Karlsruhe auf dem Regierungskurs zur Euro-Rettung zu halten. Ein weiterer Beitrag dazu kam von Angela Merkel, die ihrem Ärger über die Richter vor zwei Wochen im CDU-Präsidium Luft gemacht haben soll. Wie der "Spiegel" berichtet, klagte sie dort über die ständigen Ordnungsrufe aus Karlsruhe, den Bundestag in alle Brüsseler Verhandlungen einzubeziehen. Wenn sie vor jedem Treffen mit anderen Staatschefs ihre Verhandlungslinie offenlegen müsse, käme sie "an meine Grenzen, an mein Limit". Merkel unterstellte den Richtern damit, keine Ahnung von der politischen Realität zu haben.
Dieser Vorwurf wird mittlerweile recht offen geäußert. Unmissverständlich zum Beispiel von Alexander Graf Lambsdorff. "Manche Beobachter kritisieren zu Recht, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht mit allen Vorgängen in Europa ausreichend vertraut sind. Deshalb kommt es gelegentlich zu Fehleinschätzungen aus Unkenntnis", sagte der FDP-Vorsitzende im EU-Parlament. Eher verklausuliert äußerte sich Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), indem er vor gravierenden Folgen nicht nur für Deutschland warnte, sollten ESM und Fiskalpakt scheitern. "Deswegen habe ich keinen Zweifel, dass das Bundesverfassungsgericht auch diese Zusammenhänge in die eigene Urteilsbildung einbeziehen wird", sagte Lammert.
In der heutigen Verhandlung geht es zunächst nur um Eilanträge - also darum, ob das Gericht dem Bundespräsidenten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verbietet, die Zustimmungsgesetze zu ESM und Fiskalpakt zu unterzeichnen. Bis zu einer endgültigen Entscheidung könnte es noch Monate dauern. Dass das Gericht aber überhaupt eine mündliche Verhandlung im einstweiligen Rechtsschutz anberaumte - was sonst nur in Hauptsacheverfahren üblich ist -, kann als deutlicher Hinweis gewertet werden.