Ungereimtheiten bei Arbeiten im abgebrannten Haus der Zwickauer Zelle? BKA-Chef: Verhalten der Nazi-Terroristen “völlig atypisch“.
Berlin/Düsseldorf/Kiel/Hamburg. Während die Ermittlungen zu Taten und Tätern der rechtsextremistischen Terrorvereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) andauern, geht die Politik auch an die Aufarbeitung der beispiellosen Mord- und Anschlagsserie in Deutschland.
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat eine Entschädigung für die Angehörigen der Neonazi-Mordopfer angekündigt. "Den Familien der Opfer gehört jetzt unsere Anteilnahme“, sagte sie der "Welt am Sonntag“. "Auch wenn finanzielle Hilfen das Leid nicht ungeschehen machen können, werde ich mit Opferentschädigungen aus meinem Haushalt versuchen, den Angehörigen ein Zeichen unserer Solidarität zu geben.“ Sie fürchte, dass am Ende der Aufklärung "noch mehr Opfer von Fremdenhass zu beklagen sind als heute bekannt“, fügte die FDP-Politikerin hinzu.
Zeitung: Neues Zentrum gegen Rechtsterrorismus soll nach NRW
Das neue Zentrum gegen Rechtsterrorismus soll nach einem Bericht der in Düsseldorf erscheinende "Rheinischen Post“ voraussichtlich in Nordrhein-Westfalen angesiedelt sein. Die Innen- und Justizminister von Bund und Ländern hätten sich bei ihrer Sonderkonferenz am Freitag in Berlin darauf verständigt, das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsterrorismus im rheinischen Meckenheim, 20 Kilometer südlich von Bonn, unterzubringen. Dort sei bereits das BKA mit einer Zweigstelle vertreten.
Laut "Rheinischer Post“ sollen in der Außenstelle 50 Fachleute aus dem Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz, den Landesstellen, dem Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern zusammenarbeiten. Später könne das Personal noch aufgestockt werden, hieß es.
Der Bundestag wird sich am kommenden Dienstag in einer 75-minütigen Debatte mit dem Thema Rechtsterrorismus beschäftigten. Darauf hätten sich alle Fraktionen verständigt, teilten die Grünen als Initiatoren mit.
Hausbrand in Zwickau: Feuerwehr sieht Ungereimtheiten
Unterdessen sieht ein an dem Löscheinsatz in Zwickau am 4. November beteiligter Feuerwehrmann Ungereimtheiten nach dem Brand des Hauses. "Nach dem, was ich während dieses Einsatzes gesehen habe, muss ich mich sehr wundern, was dort zwei Tage danach noch alles in der Brandruine gefunden wurde“, sagte er der "Bild am Sonntag“. Gemeint sind: Die Tatwaffe der Mordserie an neun ausländischen Kleinunternehmern, ein USB-Stick mit den Namen politischer Gegner und mehrere Bekenner-Videos auf DVD.
+++ ... und plötzlich im Visier der Neonazis +++
Am 4. November hatte die mutmaßliche Nazi-Terroristin Beate Zschäpe nach Informationen von "Bild am Sonntag“ in dem Haus zunächst großflächig Benzin vergossen, anschließend mit benzingetränkten Lappen eine Lunte bis zur Haustür gelegt und angezündet. Die Brandentwicklung war so heftig, dass es schon wenige Minuten später zu einer heftigen Explosion kam. 16 Feuerwehrleute und 4 Löschzüge brauchten mehr als zehn Stunden, um den Brand zu löschen.
Zentrale Gedenkfeier für Nazi-Opfer geplant
Derweil bereiten Bundespräsidialamt, Bundestag und Bundesregierung gemeinsam eine zentrale Gedenkfeier für die Opfer der Neonazi-Mordserie vor. "Wir sind uns einig, dass es eine Veranstaltung geben soll“, kündigte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) im Berliner "Tagesspiegel am Sonntag“ an. Angesichts der Pannen bei der Fahndung nach rechtsextremen Gewalttätern wurden derweil die Rufe nach politischen Konsequenzen lauter. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verlangte am Sonnabend eine bessere Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) will der Bundesanwaltschaft mehr Kompetenzen übertragen.
Unterdessen wurde deutlich, dass die Zwickauer Terrorzelle über ein größeres Netzwerk verfügte, als bislang angenommen. Der Thüringer Verfassungsschutz geht laut "Spiegel“ und "Focus“ mittlerweile von etwa 20 Unterstützern aus, die den Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Untergrund halfen.
"Eine Reihe weiterer Verdächtiger“
Der Vorsitzende des Geheimdienstkontrollgremiums des Bundestages, Thomas Oppermann, rechnet mit weiteren Festnahmen über die bislang bekannten Fälle hinaus. "Das Terror-Trio hatte weitere Helfer, ohne die ein Leben 13 Jahre im Untergrund nicht möglich gewesen wäre. Es gibt noch eine Reihe weiterer Verdächtiger“, sagte der SPD-Fraktionsgeschäftsführer der "Bild am Sonntag“.
Den "Spiegel“-Informationen zufolge hatte der Thüringer Verfassungsschutz Ende der 90er Jahre selbst mindestens drei V-Leute im Umfeld des Trios geführt. Neben dem Kopf des Thüringer Heimatschutzes, Tino B., Deckname „Otto“, habe zu den Informanten des Geheimdienstes auch der Chef der Thüringer Sektion der Organisation "Blood & Honour“ gehört. Trotzdem gelang es später nicht, das untergetauchte Neonazi-Trio aufzuspüren.
"Hätte etwas anders laufen müssen?“
Merkel sagte in einem Video-Podcast vom Sonnabend, es mache sie nachdenklich, dass die Suche nach den Tätern jahrelang erfolglos geblieben sei. „Hätte etwas anders laufen müssen? Was könnte besser gemacht werden?“, fragte die Kanzlerin. Es sei wichtig, dass Bund und Länder jetzt darüber im Gespräch seien. "Ich möchte nie wieder, dass ein Geheimdienst Vollzugsbefugnisse bekommt. Aber informieren müssen sich die Behörden natürlich untereinander. Hier werden wir genau hinschauen, ob wir etwas aus den Vorgängen lernen müssen“, sagte Merkel.
Friedrich forderte im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel“, die Bundesanwaltschaft müsse leichter die Ermittlungen an sich ziehen können, wenn etwa Fälle schwerer Kriminalität Landesgrenzen überschritten. Damit solle verhindert werden, dass Staatsanwaltschaften der Länder wie im Fall der Neonazi-Terroristen den größeren Zusammenhang einer Verbrechensserie übersehen.
Zugleich verteidigte der Innenminister Polizei und Verfassungsschutz gegen Kritik. Vor Delegierten der Jungen Union in Bayern sagte er im niederbayerischen Essenbach, die Sicherheitsbehörden seien „nicht auf dem rechten Auge blind“. Die Institutionen müssten sich einen solchen Vorwurf „nicht gefallen lassen“.
BKA-Chef: Zwickauer Gruppe "völlig atypisch“
Auch der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziercke, wies den Vorwurf eines Totalversagens der Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung der Neonazi-Mordserie zurück. Die Zwickauer Gruppe habe sich "völlig atypisch“ verhalten, indem sie schwerste Gewalttaten verübte, ohne sich dazu zu bekennen. Dieser Umstand und die verdeckte Lebensweise seien für politisch motivierte Kriminalität von Rechts "bislang einmalig“.
Ziercke räumte zugleich ein, dass dem BKA bis zuletzt „weder Erkenntnisse zu rechtsterroristischen Organisationen oder Strukturen in Deutschland noch Anzeichen für derartige Anschläge aus der rechtsextremen Szene“ vorgelegen hätten. Man müsse sich fragen, ob „wir bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus beziehungsweise des Terrorismus grundsätzlich richtig aufgestellt sind“.
NDR: Norddeutsche Rechte hatten Kontakt zu Umfeld des Terror-Trios
Einzelne Mitglieder der Neonazi-Szene in Schleswig-Holstein sind offenbar mit dem Umfeld der Terrorverdächtigen aus Thüringen in Kontakt gewesen. Nach Recherchen des NDR Schleswig-Holstein Magazins und der NDR 1 Welle Nord belegen Internetseiten Verbindungen zwischen dem ehemaligen NPD-Chef in Schleswig-Holstein, Peter Borchert, und dem „Thüringer Heimatschutz“, wie der NDR am Samstag mitteilte. In dieser rechtsextremistischen Gruppe war das sogenannte Terror-Trio in den späten 1990er Jahren aktiv.
Zudem liege dem NDR ein Video vor, das Mitglieder dieser Gruppe bei einer Demonstration in Weimar 2002 zeigt. Die Kundgebung war von Christian Worch, einem der führenden Köpfe der rechten Szene in Norddeutschland, angemeldet worden. Innenminister Klaus Schlie (CDU) hatte gesagt, dass es bislang keine Erkenntnisse über Verbindungen der Terrorgruppe zur rechtsradikalen Szene in Schleswig-Holstein gebe. Vereinzelte Kontakte seien aber nicht auszuschließen.
800 Menschen schweigen in Hamburg für Neonazi-Mordopfer
In Hamburg sind am Sonnabend 800 Menschen im Gedenken an die Mordopfer der Neonazis aus Zwickau auf die Straße gegangen . Der Schweigemarsch sei friedlich verlaufen, sagte ein Sprecher der Polizei. Zu dem Gedenkzug hatten der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Hamburg und zahlreiche andere Organisationen, darunter die Türkische Gemeinde in Hamburg, "Unternehmer ohne Grenzen“ und "Laut gegen Nazis“ aufgerufen.
Der Marsch begann am Bahnhof im Stadtteil Altona und endete an einem früheren Gemüseladen in Hamburg-Bahrenfeld, dessen ehemaliger Besitzer ebenfalls zu den Opfern der rassistischen Mordserie zählt.
Junge Union plant bundesweiten Aktionstag
Angesichts der beispiellosen Neonazi-Mordserie plant die Junge Union (JU) Anfang Dezember einen bundesweiten Aktionstag gegen Rechtsextremismus. Vorbereitet würden Dutzende Veranstaltungen wie etwa Demonstrationen und Vorträge, sagte der JU-Vorsitzende Philipp Mißfelder der Nachrichtenagentur dapd in Berlin. Die Gesellschaft müsse ein Zeichen setzen. „Dieser rechtsradikale Terror ist eine wirkliche Gefährdung für das demokratische System.“
Angesichts der offenkundigen Ermittlungspannen sieht Mißfelder die Glaubwürdigkeit staatlicher Behörden in Frage gestellt. „Die Institutionen der wehrhaften Demokratie müssen sich jetzt bewähren“, sagte der Bundestagsabgeordnete, der auch dem CDU-Präsidium angehört. Mißfelder sprach sich erneut dafür aus, ein Verbot der rechtsextremen NPD zu prüfen.
Mit Material von dpa, rtr, dapd und epd