Die Dreigliedrigkeit gilt vielen Christdemokraten als Grundwert. Heute wirbt Bildungsministerin Annette Schavan in Hamburg für ihr Konzept.
Rostock/Berlin. Reinhard Blümel trägt einen Blaumann und sagt die richtigen Worte zur richtigen Zeit. Nein, Hauptschüler habe man in der Rostocker Neptun Werft eher weniger, erzählt er. Die meisten Lehrlinge, die sich hier zum Schweißer oder Mechaniker ausbilden ließen, kämen dann doch von der Realschule. Bundesbildungsministerin Annette Schavan lächelt kurz. "Der Theorieteil der Abschlussprüfungen", sagt Blümel weiter und legt die Stirn in Falten, "sind für die Hauptschüler meistens zu anspruchsvoll."
Er ist ein erfahrener Ausbilder, der schon seit vielen Jahren junge Männer und Frauen durch die Lehre und in den Berufseinstieg schleust. Früher gab es mal die Vorstellung, dass die Hauptschule ein Ort für die handwerklich Begabten ist. Der Ort, an dem vor allem diejenigen ihre Stärken fördern können, die lieber praktisch arbeiten als theoretisch. Doch heute hat die Hauptschule einen denkbar schlechten Ruf. In ihr vereinen sich Vorstellungen von einem Abschluss, der immer weniger wert ist, von überforderten Lehrern, von sozialen Brennpunkten. Die Hauptschule gilt vielen Eltern als Stigma - nur wenige schicken ihre Kinder überhaupt noch dorthin. Vor allem in ländlichen Regionen ist das problematisch. Manchmal bewegt sich der Anteil der Anmeldungen im unteren einstelligen Prozentbereich. Gerade in dünn besiedelten Gebieten reichen sie nicht einmal mehr aus, um überhaupt Klassenstärke zu erreichen. Dass sich die Schülerzahl durch den demografischen Wandel bis 2020 um 20 Prozent verringern wird, verschlimmert die Situation.
Annette Schavan hat deshalb ein 42 Seiten langes Bildungspapier verfasst, das die Schulpolitik ihrer CDU an die gesellschaftliche Realität anpassen soll, zu der auch Ausbilder Blümel gehört. In einem Teil geht es dabei um die Zukunft der Hauptschulen, und Schavan schlägt vor, dass man sie dort, wo es nötig ist, mit der Realschule zusammenbringt. In vielen Bundesländern ist das ohnehin längst geschehen, etwa in Hamburg und Schleswig-Holstein. Doch Schavan schlägt heftiger Gegenwind aus ihrer eigenen Partei entgegen - und es geht dabei um mehr als nur um die Kritik an einer Reformidee. Es geht um eine Abrechnung mit der Politik der Modernisierer, die angeführt wird von der Parteichefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nach dem Abschied von der Wehrpflicht und der Energiewende gehört das Bekenntnis zum dreigliedrigen Schulsystem für viele Christdemokraten zu einem der letzten konservativen Grundwerte, die die CDU noch vertritt. Die Abschaffung der Hauptschule - genau so wird Schavans Plan verstanden - ist für die Bewahrer des CDU-Markenkerns ein letzte Tabu. Offen die Kanzlerin zu kritisieren kommt jedoch wenn überhaupt nur für altgediente Granden wie Kurt Biedenkopf oder Erwin Teufel infrage - also entlädt sich der ganze Ärger an einer ihrer engsten Vertrauten: Annette Schavan. Ende Juli musste sie eine herbe Niederlage kassieren, als sie ihr Kreisverband Alb-Donau/Ulm in Baden-Württemberg nur zur Ersatzdelegierten für den Parteitag im November in Leipzig wählte, wo über die Bildungspläne abgestimmt werden soll. Sie, die Bundesministerin aus Berlin, Inhaberin eines Spitzenamtes, bald 40 Jahre in der CDU, seit 12 Jahren Vizevorsitzende. "So nicht!", lautete das Signal ihrer Parteikollegen.
Deutlich freundlicher begegnet man Schavan bei ihrer Sommerreise am Freitag in Mecklenburg-Vorpommern. In der Neptun Werft unterzeichnet sie einen Vertrag für den Bau eines neuen Forschungsschiffes, was Meereswissenschaftler und Werftleitung gleichermaßen erfreut. Öffentlich Profil gewinnen kann sie damit allerdings nicht. Selbst im Bereich Bildung und Schule ist Schavans Arbeit nur selten schlagzeilenträchtig - beides ist immerhin Ländersache. Auch ihr ruhiger, sachorientierter und pragmatischer Stil trägt dazu bei, dass sie in Politiker-Ranglisten wenn überhaupt nur ganz weit hinten auftaucht. Der Pförtner an den Werfttoren erkennt die Ministerin bei ihrer Anreise am Morgen zunächst nicht.
Als jemand, der nur ungern um Popularität buhlt, steht Schavan in den kommenden Wochen bis zum Parteitag vor einer schweren Aufgabe. Sie muss die Parteibasis für ihre Pläne begeistern. Scheitert sie, wäre dies ein bittrerer Schlag, sowohl für sie persönlich als auch für den Modernisierungskurs der Kanzlerin. Heute kommt Schavan nach Hamburg. In der ersten von vier Bildungskonferenzen will die promovierte Theologin unterstützt von Generalsekretär Hermann Gröhe mit den fünf norddeutschen Landesverbänden diskutieren. "Jetzt geht es darum, vom Zwist in einen Konsens zu kommen", sagt sie. "Ich finde, wir müssen das Ganze prozessorientiert angehen." Es sei die richtige Zeit für die CDU, einen Vorschlag zu machen, "wie sie sich die Bildungsrepublik Deutschland vorstellt".
Diese Ansage geht vor allem in Richtung Süden, wo man sich nicht nur über Schavans Pläne, sondern auch deren Kommunikation mokiert. "Die Schlagzeile ,Bundes-CDU schafft die Hauptschule ab' ist eine Katastrophe", sagte der baden-württembergische Landeschef Thomas Strobl kürzlich. Darin schwingt der Vorwurf mit, man habe erst aus der Zeitung und nicht von der früheren Kultusministerin Schavan persönlich erfahren, wohin der bildungspolitische Zug der CDU fahren soll. Vorstellbar ist einerseits, dass der Landesverband mehr als andere ein Frustventil sucht - immerhin wurden die Christdemokraten nach 56-jähriger Regierung im März erstmalig abgewählt, und dann auch noch für einen grünen Ministerpräsidenten. Da sitzt der Schock tief. Andererseits ist etwa auch Hessens Landeschef Volker Bouffier ein erklärter Gegner von Schavans Plänen, die er in einem Interview mit dem Abendblatt sogar als "töricht" bezeichnete. Einen Eingriff in die ureigenste Angelegenheit der Bildungspolitik tolerieren die Ministerpräsidenten nur schwer. Dass die von Schavan als neue Schulform präferierte "Oberschule" auch weiterhin die Möglichkeit offenlassen soll, den Hauptschulabschluss zu erwerben, tröstet sie nicht.
Es ist nicht so, dass die Bildungsministerin nicht mit Gegenwind gerechnet hätte. "Eine Volkspartei bleibt nur Volkspartei, wenn sie sich weiterentwickelt", hört man in letzter Zeit häufiger von ihr. Und den Satz: "Wer sich treu bleiben will, muss sich verändern." Als Landeschef Strobl am Wochenende erneut verkündete, für die Hauptschule kämpfen zu wollen, zeigte sich die sonst so diplomatische Schavan dann regelrecht genervt. Die CDU in Baden-Württemberg müsse "weg von der Selbstbeschäftigung, weg von den Nickligkeiten, hin zu den spannenden Themen", sagte sie in einem Interview. Den Vorschlag einer Regionalkonferenz mit Schavan lehnt Strobl ab. Sein Verband wird Mitte Oktober jetzt einen eigenen Sonderparteitag zur Bildung veranstalten.