Kanzlerin fordert Kraftanstrengung für Atomausstieg. Opposition nennt Regierung unglaubwürdig und fordert Schutz für Industrie.
Berlin. Mit Pathos tut sich Kanzlerin Angela Merkel seit jeher schwer. Doch in ihrer ansonsten nüchtern vorgetragenen Regierungserklärung zum Atomausstieg bis 2022 ließ die CDU-Chefin es gestern nicht an bedeutungsschweren Begriffen mangeln: "Es handelt sich um eine Herkulesaufgabe. Ohne Wenn und Aber." Noch vor einem halben Jahr hatte die Regierung eine Verlängerung der Atomlaufzeiten bis etwa 2040 beschlossen. Doch nach der Atomkatastrophe von Fukushima habe sich ihre persönliche Haltung zur Atomkraft grundsätzlich verändert, sagte Merkel. Deshalb müsse die Politik umsteuern. SPD, Grüne und Linke kritisierten, Merkels Schwenk in der Energiepolitik sei völlig unglaubwürdig.
Das Kabinett hatte zu Wochenbeginn einen schrittweisen Atomausstieg bis 2022 und den Umstieg auf erneuerbare Energien beschlossen. Dazu soll bis Anfang Juli ein 700 Seiten starkes Gesetzespaket in Bundestag und Bundesrat beraten werden.
Merkel hob hervor, die Energiewende sei nur möglich, wenn Bürger und Parteien beim notwendigen Netzausbau mitzögen. Unter anderem plant die Bundesregierung, den Netzausbau zu beschleunigen. Für Offshore-Windparks sollen Sammelanbindungen garantiert werden - bislang stocken Investitionen in solche Windparks oft, weil die Netzbetreiber mit dem teuren Bau eines Netzanschlusses zögern. Die Regierung will bis 2020 einen Ökostromanteil von 35 Prozent und bis 2050 von 80 Prozent. Der Stromverbrauch soll bis 2020 um zehn Prozent gesenkt werden. Merkel: "Wenn wir den Weg zur Energie der Zukunft so einschlagen, dann werden die Chancen viel größer sein als die Risiken."
Ähnlich argumentierte Bundesumweltminister Norbert Röttgen. "Diese neue Energiepolitik ist ein Investitionsprogramm, sie ist ein Modernisierungsprogramm, sie ist ein Innovationsprogramm", sagte der CDU-Politiker.
Die Opposition kündigte zwar an, dem Gesetzespaket zum Atomausstieg zustimmen zu wollen. Zugleich nutzen SPD und Grüne aber die Gelegenheit zur Abrechnung mit der schwarz-gelben Regierungskoalition. "Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet Sie sich hier hinstellen als die Erfinderin der Energiewende in Deutschland. Das zieht einem doch die Schuhe aus", sagte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier in Richtung Merkel. "Eins werde ich nicht vergessen: mit welchen Hetzreden Sie uns vor zehn Jahren durch die Lande gejagt haben", sagte er mit Blick auf die Debatte über den rot-grünen Atomausstieg.
Der Sprecher der Hamburger Landesgruppe in der SPD-Fraktion, Johannes Kahrs, sagte dem Hamburger Abendblatt: "Verglichen mit ihren Reden im vergangenen Jahr hat sich die Kanzlerin um 180 Grad gedreht. Aber das geschieht aus Angst vor den Wählern und nicht aus Einsicht in die begangenen Fehler." Die Bundesregierung habe es zudem versäumt, energieintensive Industrie-Unternehmen wie den Hamburger Kupferproduzenten Aurubis ausreichend vor Strompreiserhöhungen zu schützen, kritisierte Kahrs. "Die Energiewende darf nicht auf Kosten der deutschen Grundstoffindustrie vollzogen werden."
Grüne und SPD forderten Nachbesserungen. Mit dem Gesetz zum Ausbau der erneuerbaren Energien könnten die Potenziale nicht ausgeschöpft werden, sagte Steinmeier. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin lobte aber den Lerneffekt bei Schwarz-Gelb. "25 Jahre nach Tschernobyl zieht jetzt auch die CDU aus Fukushima Konsequenzen. Das ist spät, aber es ist richtig."
Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) pochte gestern im Bundestag auf den raschen Bau von neuen Stromleitungen und Kraftwerken. Die Versorgungssicherheit sei für die Industrienation Deutschland entscheidend. Deshalb sei ein Alt-Atommeiler als "kalte Reserve" eine gute Option: "Einen Blackout können wir uns nicht leisten", sagte Rösler. Der FDP-Chef attackierte die Grünen, die sich nicht zur Unterstützung der schwarz-gelben Energiewende durchringen könnten. Wer Nein zur Kernenergie sage, müsse Ja zum Bau konventioneller Kraftwerke sagen. Rösler betonte, die Regierung erwarte moderat steigende Strompreise für die Verbraucher. Das Wirtschaftsministerium kalkuliert mit einem Aufschlag von jährlich 30 bis 40 Euro pro Vier-Personen-Haushalt.