Bundestag beschließt die Verlängerung der Laufzeiten, aber Verfassungsrechtler rechnet mit Nein des Verfassungsgerichts.
Berlin. Kaum hatte die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundestag der Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke zugestimmt, planten SPD und Grüne gestern bereits den Gang nach Karlsruhe. Beide Fraktionen wollen gemeinsam Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichen, um die Abkehr von dem einst von ihnen beschlossenen Atomausstieg zu kippen. Die SPD-regierten Länder wollen zudem eine eigene Klage in Karlsruhe prüfen.
Noch aber sind den Klägern die Hände gebunden. Erst wenn Bundespräsident Christian Wulff unterschrieben hat und die Verlängerungen der Laufzeiten zusammen mit den weiteren Vorhaben des Energiekonzepts der Bundesregierung im Bundesanzeiger veröffentlicht worden sind, kann der Gang nach Karlsruhe offiziell werden. SPD-Chef Sigmar Gabriel gab sich im Bundestag siegessicher. Die Opposition werde das Gesetz beim Bundesverfassungsgericht zu Fall bringen, kündigte Gabriel an.
Seine Partei, die Grünen und die Linkspartei monieren insbesondere, dass die Regierung das Energiekonzept auch ohne eine Zustimmung des Bundesrates umsetzen will. Kritik an der Bundesregierung kommt auch von einem der beiden Verfassungsrechtler, die von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) im Rahmen der Laufzeitplanungen um Gutachten gebeten worden waren. Joachim Wieland, Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften, rechnet mit einem Scheitern der Pläne der Bundesregierung vor dem höchsten deutschen Gericht. Wieland sagte dem Abendblatt: "Es ist nahezu gewiss, dass das Bundesverfassungsgericht die Laufzeitverlängerungen stoppen wird, weil der Bundesrat nicht beteiligt wurde."
Wieland hatte wie auch der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in seinem Gutachten für das Ministerium die Zustimmung des Bundesrats für längere Laufzeiten für notwendig erklärt.
"Mit jeder Laufzeitverlängerung wird in die Rechte der Länder eingegriffen. Normalerweise müssten sie ihre Zustimmung geben", begründete Wieland gestern seine Kritik am Verhalten der Koalition. Die Länge der beschlossenen neuen Laufzeiten habe die Position der Bundesregierung sicher nicht gestärkt, so der Verfassungsrechtler. Gutachter hätten auch moderate Laufzeitverlängerungen ohne Zustimmung des Bundesrats für möglich gehalten, so Wieland. "Aber diese Laufzeitverlängerungen sind nicht mehr moderat."
Um eine schnelle Klärung der Verfassungsmäßigkeit der Laufzeitverlängerungen zu erzielen , empfahl Wieland der Opposition, nicht den langwierigen Gang einer Klage zu gehen. "Wenn die Kläger eine einstweilige Anordnung beantragen, dann wird es innerhalb von Wochen eine Entscheidung des Verfassungsgerichts geben. Wenn nur eine Klage erhoben wird, dann wird es in einem bis anderthalb Jahren vermutlich erst eine Entscheidung geben", warnte der Speyerer Professor. Bei einer einstweiligen Anordnung könne zunächst geklärt werden, ob das Gesetz überhaupt in Kraft treten dürfe oder nicht. Er betonte: "Da in meinen Augen der Fall ziemlich klar ist, halte ich eine einstweilige Anordnung für sinnvoll."
In einer Marathon-Sitzung von mehr als sechs Stunden hatte der Bundestag die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke beschlossen. Die Grünen-Abgeordneten trugen schwarze Trauerkleidung, viele hatten zudem ein gelbes X-Kreuz - das Symbol des Anti-AKW-Protests in Gorleben - angeheftet. "Sie spalten die Gesellschaft, wo sie sich schon einig war", rief SPD-Chef Gabriel den Abgeordneten von Union und FDP zu. Der Beschluss zum Atomausstieg habe einen Konsens geschaffen, der jetzt zugunsten der Atombranche geopfert werde. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin schimpfte: "Das ist keine Revolution, das ist ein Putsch."
Umweltminister Röttgen verteidigte das Konzept als zukunftsweisend und solide finanziert. "Sie stellen die Parteiinteressen vor die Interessen des Landes", kritisierte er die Opposition. Die Laufzeiten sollen nun um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert werden. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien soll mit Abgaben der AKW-Betreiber für einen Öko-Fonds mitfinanziert werden. Die Konzerne Vattenfall, RWE, E.on und EnBW müssen zudem bis 2016 jährlich eine Kernbrennstoffsteuer von 2,3 Milliarden Euro zahlen.
Als Zielgröße für den Fonds wurden 70 Milliarden Euro festgeschrieben. Die Bundesregierung erwartet, dass die Banken in guten Jahren knapp 1,5 Milliarden Euro in den Fonds einzahlen. Die Opposition kritisierte, dass es womöglich Jahrzehnte dauern werde, bis die angepeilte Zielgröße des Fonds erreicht ist.