Von Mitternacht an durfte in Stuttgart gefällt werden, gegen 01.00 Uhr liefen die Kettensägen. Bagger rissen unter Protest Bäume aus dem Boden.
Stuttgart/Berlin. Nach dem Sturm ist vor dem Sturm: Die Lage auf dem Baufeld für das umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 im Schlossgarten bleibt angespannt. Tausende Demonstranten haben in der Nacht lautstark und heftig gegen das Fällen der ersten 25 Bäume protestiert. Von Mitternacht an durfte gefällt werden, gegen 01.00 Uhr liefen die Kettensägen. Bagger rissen Bäume aus dem Boden. Innerhalb kürzester Zeit lag einen Gutteil der ersten 25 Bäume flach. Mehrere tausend Demonstranten machten stundenlang mit Trillerpfeifen und Sprechchören ihrem Unmut Luft. Mehr als 1000 Polizisten sperrten das Areal nahe des Hauptbahnhofs ab.
Die Polizei sprach am Morgen von gut 1500 bis 3000 Demonstranten. „Friedlich ist was anderes“, sagte ein Sprecher. Immer wieder seien aus der Menge der Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 heraus Flaschen und Kastanien in Richtung Polizei geflogen. Vermummte Demonstranten hätten wiederholt versucht, über die Absperrgitter zu klettern. Die Beamten setzten erneut Pfefferspray ein.
Bundeskanzlerin Angala Merkel (CDU) verband das Bauvorhaben erneut mit der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März. Bei der Wahl gehe es auch um die Zukunftsfähigkeit des Landes insgesamt, sagte Merkel dem Südwestrundfunk (SWR). Zu den anhaltenden Protesten sagte sie: „Ich wünsche mir, dass solche Demonstrationen friedlich verlaufen. Das muss immer versucht werden, und alles muss vermieden werden, was zu Gewalt führen kann.“
Am Donnerstag war die Lage im Schlossgarten eskaliert. Mit Wasserwerfer und Tränengas räumten Hundertschaften das Baufeld. Hunderte Demonstranten wurden verletzt. Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) hatte die Schuld eindeutig den Anti-Stuttgart-21-Aktivisten gegeben. Die Polizei sei entsetzt gewesen über die Aggressivität, die ihr entgegenschlug, sagte Rech im ARD-„Morgenmagazin“.
Der Bundestags-Innenausschuss beschäftigte sich am Freitagmorgen mit den Auseinandersetzungen in Stuttgart. Der Grünen-Innenexperte Wolfgang Wieland sagte vor der Sitzung, er erwarte, dass Regierungschef Stefan Mappus (CDU) die Eskalation zurückschraube und eine Denkpause einlege. Der friedliche Protest von Bürgern sei mit Polizeigewalt derart angegangen worden, „dass wir eine Vergiftung des innenpolitischen Klimas insgesamt in der Bundesrepublik befürchten müssen“.
Grünen-Chef Cem Özdemir sagte, die Gewalt sei von der baden-württembergischen Landesregierung ausgegangen. Innenminister Rech habe „auf skandalöse Weise ältere Damen, Jugendliche, die friedlich demonstrieren, und Mütter zusammenprügeln“ lassen, sagte Özdemir im ARD-„Morgenmagazin“.
Der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Uwe Beckmeyer, forderte einen sofortigen Baustopp. „Ich rufe die Deutsche Bahn als Bauherr dazu auf, alles zu tun, dass eine weitere Eskalation verhindert wird.“ Die Lage sei so verfahren, dass jetzt nur mit einem Ruhen der Arbeiten weitere Gewalt zu verhindern sei. „Es darf hier nicht weiter eine Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Politik gemacht werden“, sagte er der dpa in Berlin.
Die baden-württembergische Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) kritisierte das Vorgehen der Demonstranten. Sie sagte im Deutschlandfunk, man werde „nachdenklich, wenn man Baustellen für Zukunftsprojekte derartig absichern“ müsse. So hätten Schüler einen Polizeiwagen besetzt. Die Ministerin deutete an, dass Demonstranten Kinder „bewusst nach vorne geschoben“ hätten.
Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, verteidigte den Einsatz als „nicht nur rechtmäßig, sondern auch vollkommen angemessen“. Der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ sagte er: „Wo ein Abdrängen von Demonstranten nicht mehr möglich sei, darf und muss unmittelbarer Zwang durch Wasserwerfer, Reizgas oder Schlagstöcke eingesetzt werden.“ Sprecher der Demonstranten erhoben schwere Vorwürfe gegen die Polizei. Matthias von Herrmann von der „Initiative Parkschützer“ sagte in der ARD, die Protestierenden würden kriminalisiert. Die Gewalt sei ausschließlich von der Polizei ausgegangen. „Es gab Schläge ins Gesicht und an die 400 Augenverletzungen durch Tränengas.“ Herrmann sagte, er erwarte für eine neue Großdemonstration am Freitagabend bis zu 100000 Teilnehmer.
Laut Polizei sollen die Baumfällarbeiten am Freitag vorübergehend abgeschlossen werden. Die ersten 25 Bäume, die bei der ersten Fällaktion beseitigt werden sollten, seien alle abgesägt. Es gehe jetzt darum, das Baufeld aufzuräumen. Danach werde vermutlich ein fester Bauzaun aufgebaut. Das Projekt Stuttgart 21 sieht den Umbau des Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm vor. Die Bahn rechnet mit Gesamtkosten von sieben Milliarden Euro. Kritiker befürchten eine Kostensteigerung auf bis zu 18,7 Milliarden Euro.