Polizei geht mit Härte gegen die Projekt-Gegner vor. Über 400 Menschen wurden verletzt. Wasserwerfer, Reizgas und Schlagstöcke.
Stuttgart. Jetzt eskaliert die Situation: Der monatelange Konflikt um das Milliarden-Bahnprojekt Stuttgart 21 ist in blanke Gewalt umgeschlagen. Ein Großaufgebot der Polizei setzte am Donnerstag bei schweren Auseinandersetzungen mit Demonstranten Wasserwerfer, Reizgas und Schlagstöcke ein. Mehr als 400 Protestierer im Schlossgarten erlitten Augenreizungen, einige trugen Platzwunden und Nasenbrüche davon, wie das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 mitteilte. Die Aktivisten hatten versucht, die Räumung des Parks mit Sitzblockaden zu verhindern. In der Nacht zum Freitag sollten dort die ersten von knapp 300 zum Teil uralten Bäumen gefällt werden. Mehrere tausend Menschen protestierten gegen die Abholzung auf dem Baugelände des geplanten unterirdischen Bahnhofs.Nach Angaben des Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf waren sechs Hundertschaften der Polizei im Einsatz – auch Bundespolizisten sowie Beamte aus Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen.
Die Opposition aus SPD und Grünen sowie die Gewerkschaften zeigten sich entsetzt über das harte Vorgehen der Polizei. „Das ist Politik in Rambo-Manier“, sagte ein DGB-Sprecher. „Mit einer brutalen Bulldozer-Politik wird die Auseinandersetzung nur schärfer und noch schwieriger werden“, sagte Grünen-Chef Cem Özdemir in Berlin. SPD- Generalsekretärin Andrea Nahles mahnte Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU), er trage die Verantwortung, „Staat und Bürger nicht weiter gegeneinander aufzustacheln“.
Der massive Polizeieinsatz wird bereits an diesem Freitag ein Nachspiel im Bundestag haben. Der Innenausschuss will sich am Vormittag auf Antrag der Linken auf einer Sondersitzung mit den Ereignissen beschäftigen. Die Grünen beantragten zudem eine Aktuelle Stunde im Bundestag.
Die Kirchen riefen zur Gewaltfreiheit auf. Der evangelische Landesbischof Frank Otfried July und der katholische Bischof Gebhard Fürst appellierten an alle Parteien, „zum Tisch des gemeinsamen Gesprächs“ zurückzukehren.
Die Polizei sprach am Abend von 90 Menschen, die sich ambulant behandeln ließen, neun seien mit Platzwunden in Krankenhäuser gebracht worden. Viele Leichtverletzte hätten offensichtlich darauf verzichtet, sich behandeln zu lassen.
Die Aktivisten kündigten massiven Widerstand für die nächsten Tage an. Ein Sprecher der sogenannten Parkschützer, Matthias von Herrmann, erwartete einen starken Zulauf für die Proteste: „Der Schlossgarten wird heute Abend und in der Nacht richtig voll.“ Spezialkräfte der Polizei setzten am frühen Abend einen Kran mit Hebebühne ein, um Besetzer von den Bäumen zu holen. Außerdem versuchten Beamte vier Aktivisten, die sich um einen Baum herum angekettet hatten, loszueisen. Die frühere Verdi-Landesvorsitzende Sybille Stamm berichtete von einem harten Gewalteinsatz bei der Auflösung von Blockaden. Sie habe neben Demonstranten gestanden, die sich an einen Zaun gekettet hatten, und sei ohne Vorankündigung von Polizisten zu Boden geworfen, getreten und mit Tränengas besprüht worden. „Das habe ich seit ’68 nicht erlebt“, sagte Stamm.
Am Vormittag hatten laut Polizei mehr als 1000 Schüler im Schlossgarten gegen die Räumung des Parks demonstriert. Die Polizei war mit Tränengas gegen Schüler vorgegangen, die einen Lastwagen blockiert hatten. Eine Schülerin erlitt eine Gehirnerschütterung. Etwa 30 Schüler hatten einen Polizei-Lkw mit Absperrgittern besetzt und wurden später von Spezialkräften der Polizei heruntergeholt.
CDU-Landtagsfraktionschef Peter Hauk warf den Projektgegnern vor, sogar Kinder für den Protest zu instrumentalisieren. „Ich finde es unverantwortlich von Müttern und Vätern, dass sie ihre Kinder nicht nur mitnehmen, sondern auch in die erste Reihe stellen“, sagte Hauk der Nachrichtenagentur dpa in Stuttgart.
Die Polizei werde zur Erledigung politischer Defizite vorgeschoben, sagte dagegen Grünen-Bundestagsfraktionschefin Renate Künast in Berlin. „Das hatten wir in Deutschland alles schon einmal.“ Der Linken-Fraktionsvize Ulrich Maurer forderte den Rücktritt von Landesinnenminister Heribert Rech (CDU): „Wer versucht, angemeldete Schülerdemos mit Schlagstöcken, Reizgas und Wasserwerfern aufzulösen, hat mit der Demokratie gebrochen und muss als Innenminister seinen Hut nehmen.“
Rech sagte, es sei Aufgabe der Polizei, diese rechtlich genehmigte Baumaßnahme zu sichern. „Dem kommen wir ohne Wenn und Aber nach.“ Die Polizei setze zwar weiterhin auf Deeskalation. Bei Straftaten oder Blockaden werde aber mit Härte vorgegangen. Die Polizei will den Baustellen-Aufbau für das Grundwassermanagement durch Gitter sichern. Die Fällarbeiten sollen bis Samstag dauern. Danach werde das Baulager durch einen Zaun abgesperrt werden, erklärte Polizeipräsident Stumpf.
Das Projekt Stuttgart 21 sieht den Umbau des Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm vor. Die Bahn rechnet mit Gesamtkosten von sieben Milliarden Euro. Kritiker befürchten eine Kostensteigerung auf bis zu 18,7 Milliarden Euro.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz will die Baumfällarbeiten mit einer einstweiligen Anordnung stoppen lassen. Ein entsprechender Antrag ging am Donnerstag beim Verwaltungsgericht Stuttgart ein und wird geprüft, wie eine Gerichtssprecherin bestätigte.