Was die Reformpläne von Gesundheitsminister Philipp Rösler für Verbraucher bedeuten – die wichtigsten Fragen beantwortet das Abendblatt.
Berlin. Totgesagte leben länger: Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP), dem die Opposition bereits das Etikett einer "Lame Duck", einer "lahmen Ente", angeklebt hatte, war die Genugtuung gestern anzusehen, als er die Details des Gesundheitskompromisses in der Bundespressekonferenz bekannt gab. Kein Wunder: Das Papier trägt überraschend deutlich die Handschrift des Liberalen, es soll mittelfristig den Einstieg in eine wettbewerbliche Neuordnung des Gesundheitssystems bedeuten. Die Beitragszahler wird das allerdings teuer zu stehen kommen. Der Gesundheitskompromiss der Koalition bedeutet mehr Belastungen, und zwar für alle. Die 50 Millionen gesetzlich Krankenversicherten müssen draufzahlen, auch für ihre Arbeitgeber wird es teurer. Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen:
Warum wird das System schon wieder verändert?
Die Gesundheitspolitik war bereits der Zankapfel der Großen Koalition. Ein radikales Sparprogramm bei Kliniken, Ärzten und Pharmaindustrie blieb deshalb aus - stattdessen stiegen die Kosten weiter. Dann wurde der Gesundheitsfonds aufgelegt. Doch die Wirtschaftskrise ließ die Einnahmen nach unten fallen. Für 2011 wurde ein Defizit der gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von elf Milliarden Euro prognostiziert. Diese Deckungslücke, die das medizinische Versorgungssystem bedrohte, soll durch die Anhebung des Beitragssatzes und flankierende Sparmaßnahmen geschlossen werden. Weitere Kostensteigerungen im System will die Koalition über höhere Zusatzbeiträge auffangen, die die Kassen selbst festlegen. Wer solche Beitragserhöhungen nicht mitmachen will, kann zu einer günstigeren Kasse wechseln.
Wie entwickelt sich der Beitragssatz?
Im kommenden Jahr steigt er von 14,9 auf 15,5 Prozent und erreicht damit wieder den Stand von Mitte 2009. Damals hatte die schwarz-rote Vorgängerregierung den Beitragssatz im Kampf gegen die Wirtschaftskrise zur Ankurbelung der Konjunktur gesenkt. Für die Arbeitnehmer gilt weiter ein 0,9-prozentiger Sonderbeitrag. Deshalb müssen sie 8,2 Prozent auf ihr Einkommen bezahlen, die Arbeitgeber 7,3 Prozent. Der Arbeitgeberanteil wird jetzt auf diesem Niveau eingefroren.
Was bedeutet die Erhöhung für die Einkommen?
Bei einem Bruttogehalt von 1000 Euro werden 82 statt 79 Euro im Monat fällig, bei 1500 sind es 123 statt 118,5 Euro, bei 2000 sind es164 statt 158 Euro, ab 3750 Euro sind es 307,5 statt bislang 296,25 Euro.
Welche weiteren Belastungen kommen auf die Versicherten zu?
Der Zusatzbeitrag war bisher auf ein Prozent des Bruttoeinkommens begrenzt. Überschritt er acht Euro im Monat, musste die Kasse mit Blick auf die Ein-Prozent-Überforderungsklausel eine Einkommensprüfung vornehmen. Das gilt nun nicht mehr. Die Zusatzbeiträge können beliebig ohne Obergrenze festgesetzt werden. Wenn sie bei mehr als zwei Prozent des Bruttoeinkommens liegen, wird die Differenz nach der sogenannten "Überforderungsklausel" (auch: Sozialausgleich) aus Steuermitteln gezahlt, allerdings maximal in der Höhe des bundesweiten Durchschnitts bei den Zusatzbeiträgen. Das Verfahren soll direkt mit den Arbeitgebern und Rentenversicherungsträgern abgewickelt werden.
Was bedeutet die Reform für die Krankenkassen?
Sie erhalten mehr Finanzautonomie. Wenn die Kassen selbst die Höhe der Zusatzbeiträge festlegen können, so das Kalkül der Koalition, dann stärkt das ihren Wettbewerb untereinander. Allerdings dürfen ihre Verwaltungskosten in den kommenden beiden Jahren nicht steigen.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Partei- und Fraktionsvorsitzenden von CDU, CSU und FDP haben Gesundheitsminister Rösler beauftragt, nach der Sommerpause die Beschlüsse als Gesetzentwurf vorzulegen. Dann wird die Reform im Bundestag verabschiedet.
Wie fallen die Reaktionen aus?
Kaum hatte Rösler das neue Modell vorgestellt, da hagelte es Kritik. Die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth, sagte dem Hamburger Abendblatt: "Das ist der erklärte Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung des Gesundheitssystems." Nun sei klar , "dass die Versicherten alleine über diese Kopfpauschale die weiteren Kostensteigerungen im Gesundheitssystem tragen dürfen". Rösler habe die einstige FDP-Maxime "einfach, niedrig und gerecht" konsequent auf den Kopf gestellt und handele jetzt nach dem Motto "kompliziert, hoch und ungerecht". "Weniger Netto vom Brutto ist offenkundig die neue Leitlinie von Schwarz-Gelb." Auch SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier sagte: "Die Koalition startet mit einem grandiosen Wortbruch in die Sommerferien."
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt reagierte ebenfalls enttäuscht: "Die geplante Erhöhung des Arbeitgeberbeitrags widerspricht nicht nur dem Koalitionsvertrag, sondern auch den jüngsten Zusagen der Koalitionsparteien, die Arbeitskosten nicht weiter zu erhöhen", sagte Hundt.
Protest meldete der DGB an. Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach nannte das schwarz-gelbe Modell eine "Kampfansage" an alle gesetzlich Krankenversicherten.