Der Gesprächsmarathon hat ein Ende. Nordrhein-Westfalen steht vor dem Regierungswechsel und SPD-Chefin Kraft in den Startlöchern.
Düsseldorf. Gut acht Wochen hat sie geredet. Jetzt will Hannelore Kraft regieren. Wenn die Chefin der NRW-SPD Mitte nächster Woche im Landtag zur Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens gewählt wird, werden neuneinhalb Wochen seit der Landtagswahl vergangen sein. Nach einem Sondierungsmarathon mit allen Fraktionen im neuen Fünf-Parteien-Landtag brachte Kraft die Koalitionsverhandlungen mit den Grünen letztlich aber in rasantem Tempo unter Dach und Fach. „15 Tage - das ist Rekord. Wahrscheinlich auch für ganz Deutschland“, sagte sie am Dienstag nach Abschluss der Verhandlungen in Düsseldorf.
Läuft für sie alles nach Plan, wird das künftige Spitzen-Duo des bevölkerungsreichsten Bundeslands nicht mehr männlich und schwarz-gelb, sondern weiblich und rot-grün sein. Hannelore und Sylvia nennen sie sich bereits, die beiden Frontfrauen von SPD und Grünen. Das vertraute „Du“ ergab sich in sichtlich harmonischen Koalitionsverhandlungen fast automatisch.
Keine Spur vom Gift der rot-grünen Streit-Koalitionen, die von 1995 bis 2005 sichtlich unfreiwillig das Land regiert hatten. Knackpunkte in den Verhandlungen - Fehlanzeige. Energiepolitik, Industrie, Verkehr, Schulsystem - kein Problem, so scheint es. Trotz durchaus unterschiedlicher Positionen in den Wahlprogrammen.
“Wir haben es geschafft, uns nicht gegenseitig Dinge abzuringen, sondern miteinander um den besten Weg für Nordrhein-Westfalen zu ringen“, lobte die designierte Vize-Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann. Auch Kraft lobte eine „einmalige“ Atmosphäre. „Das war eine neue Erfahrung für mich.“ Unter ihren früheren Kabinettschefs Wolfgang Clement und Peer Steinbrück hatte Kraft ein Kontrastprogramm kennengelernt, das die alten Sozialdemokraten gerne als „Rot pur“ beschrieben und durchexerzierten.
Auch Dank des neuen, typisch weiblichen Kommunikationsstils von Kraft und Löhrmann gelang es, innerhalb von nur zwei Wochen völlig geräuschlos einen rund 90 Seiten starken Koalitionsvertrag zu entwerfen. Die kollegialen Umgangsformen verrät schon ein Detail zu Beginn der gemeinsamen Abschluss-Pressekonferenz: Kraft überlässt Löhrmann den Vortritt bei der Vorstellung des gemeinsamen Werks. Keiner habe Kröten schlucken müssen, versichert die Grüne fröhlich.
Ob die neue rot-grüne Harmonie den mühsamen Alltag einer Minderheitsregierung übersteht, muss sich erst erweisen. Auf dem schwierigsten Verhandlungsfeld der Energiepolitik haben beide Partner Festlegungen vermieden. Entgegen der Überzeugung der Grünen sollen Kohlekraftwerke auch künftig gebaut werden dürfen. Allerdings müssen sie klimapolitische Vorgaben erfüllen. Wie die aussehen sollen, ist noch unbekannt.
In Verhandlungen mit dem Energiekonzern RWE soll durchgesetzt werden, dass alte „Dreckschleudern“ im Gegenzug vom Netz genommen werden. An dieser Absicht hat sich schon die schwarz-gelbe Koalition die Zähne ausgebissen. An der Grünen-Basis wird nicht jeder allein mit guten Vorsätzen zufrieden sein. Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass die Parteitage am Sonnabend den Koalitionsvertrag besiegeln werden.
Eine schwere Hypothek wird allerdings das Thema Neuverschuldung. Schon im laufenden Jahr will die künftige Regierungskoalition rund 2,6 Milliarden Euro an zusätzlichen Krediten aufnehmen. Eine „Abschlussbilanz“ der schwarz-gelben Regierung, argumentieren Kraft und Löhrmann. Damit solle das Bündnis nicht etwa rot-grüne Klientelpolitik finanzieren, sondern „verschleierte“ Finanzlücken im Etat des noch amtierenden Finanzministers Helmut Linssen (CDU) stopfen. Der Gesamtschuldenstand des Landes liegt bereits bei rund 130 Milliarden Euro. Vorschläge, wie der Berg abgebaut werden kann, bleiben SPD und Grüne noch schuldig.
Ganz andere Sorgen hat die NRW-CDU: Nach nur fünf Jahren an den Hebeln der Macht muss sie nun schon wieder die Oppositionsrolle einstudieren. Die Aufgabe des neuen Oppositionschefs muss nun der hemdsärmelige Noch-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann stemmen.
Jürgen Rüttgers tat sich in den vergangenen Wochen schwer, die Niederlage bei der Landtagswahl am 9. Mai zu verarbeiten. Ein letztes Mal ist der geschäftsführende Ministerpräsident in dieser Woche noch Gastgeber der traditionellen Sommerfeste der Landesregierung. Am Montagabend stieß er dabei in der NRW-Landesvertretung in Berlin sogar mit Hannelore Kraft an. Das strahlende Lächeln, das Schlagersängerin Vicki Leandros auf sein Gesicht zauberte, ließ er neben seiner Gegenspielerin aber vermissen.