Bei strahlend blauem Himmel verfolgen mehrere Dutzend Kameras und Fotografen fast minutiös die ersten Schritte des neuen Bundespräsidenten. Vor dem Schloss hatten sich gut 50 Schaulustige versammelt, darunter eine Schulklasse.
Berlin. Joachim Gauck wirkt angespannt. Mit der rechten Hand hält er seine Lebensgefährtin Daniela Schadt fest, mit der linken fasst er sich aufs Herz: „Es bummert sehr hier“, sagt er zum Auftakt seines ersten Amtstages im Schloss Bellevue. Bei strahlend blauem Himmel verfolgen mehrere Dutzend Kameras und Fotografen fast minutiös die ersten Schritte des neuen Bundespräsidenten. Vor dem Schloss haben sich gut 50 Schaulustige versammelt, darunter eine Schulklasse. Die Jugendlichen wollen einfach mal „den Neuen“ sehen.
Mit Gauck kommt nicht nur erstmals ein Ostdeutscher ins höchste Staatsamt, sondern auch der mit 72 Jahren bisher älteste Amtsinhaber. Er folgt auf Christian Wulff, der als damals jüngster Bundespräsident auch mit 20 Monaten die kürzeste Amtszeit hatte. Gauck soll nach den monatelangen Querelen um Wulff in der Kredit-, Medien und Schnäppchenaffäre dem Amt seine Würde zurückgeben. Das hoffen Parteien, Verbände und auch die Bürger.
Der erste Tag des neuen Staatsoberhauptes ist geprägt von Einweisungen, Gesprächen und Kennenlernen der Dienstpflichten und der Mitarbeiter. „Sehr offen, sehr freundlich“, lautet die Einschätzung im Bundespräsidialamt von jenen, die Gauck schon getroffen haben. Eben ein „Präsident zum Anfassen“. Das haben sich viele nach der zum Teil aufgesetzt wirkenden Bürgernähe Wulffs gewünscht.
Gauck selbst bekennt, dass er mehr Respekt als Freude empfinde an seinem ersten Arbeitstag. „Weil ich es noch lernen muss“, fügt er ungekünstelt hinzu. Doch weißt er schon, dass zu seinen Amtspflichten auch das traditionelle Sommerfest gehören wird. Schließlich war er vor zwei Jahren schon auf Einladung von Wulff mit dabei – und hat mit einer Gesangseinlage fast dem damaligen Präsidentenwahlsieger die Schau gestohlen. Diesmal wird Gauck die Einladungskarten schreiben. Es ist ein schöner Montag für Gauck.
Die reine Amtsübergabe am Montag ist kurz. Nicht einmal eine Stunde – eher gut eine halbe Stunde – sitzen Gauck und seine Vorgänger Christian Wulff und der Interimspräsident für 30 Tage, Horst Seehofer, zusammen. Über den Inhalt wird nichts berichtet. Außer, dass sowohl Gauck Lebensgefährtin Daniela Schadt als auch Seehofers Frau Karin anwesend waren. Staatsgeheimnisse dürften da wohl kaum gewälzt worden sein.
Offen bleibt zuletzt nur eine Frage: Warum hat Wulffs Ehefrau Bettina nicht die Fünfer-Runde komplettiert? Bis zuletzt hatte sie an der Seite ihres Mannes gestanden, auch als er seinen Rückzug verkündete. Diesmal nicht. Jedoch scheint Wulff schon aus der Krise etwas gelernt zu haben. Als die fünf am Montag das Schloss Bellevue betreten, geht Wulff zunächst vor, aber dann als letzter hinein.
Pressestimmen zum neuen Bundespräsidenten
Bild-Zeitung: "Selten ist ein Bundespräsident mit so gewaltiger Mehrheit gewählt worden. Einziger Wermutstropfen: 108 Enthaltungen, die wohl aus Gaucks eigenem Unterstützer-Lager stammen. Ein geschwächter Präsident? Alles Unsinn! Honecker-Ergebnisse von 99 Prozent hat ein frei gewählter Präsident nicht nötig. Einer, der niemandem nach dem Munde redet, kann mit Gegenrede gut leben. Gauck ist gerade kein „Konsens-Präsident“, sondern einer, der frischen Wind will – auch Gegenwind. Deshalb sagt er Dinge, die oft vergessen werden: Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit, sondern fordert viel – von allen. Aber Joachim Gauck weiß auch: Freiheit braucht Verantwortung. Integration braucht selbstbewusste Gastgeber; soziale Gerechtigkeit braucht eine starke Wirtschaft. Ein starkes Programm. Kann er das schaffen? Ja, er kann!"
Frankfurter Rundschau: "Joachim Gauck hat gestern angekündigt, dass er ein lernender Präsident sein werde. Einer, der nicht von vornherein alles weiß, der zuhören will. Einer, der den Graben zwischen Politik und Bürgern überwinden, nicht vertiefen will. Einer, der den Menschen abverlangen wird, ihre Verantwortung für die Generation der Kinder und Enkel wahrzunehmen. Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, hat vor Gaucks Wahl die Medien aufgerufen, der Politik nicht nur mit Vorbehalten zu begegnen, sondern den Politikern auch Vertrauen entgegen zu bringen. Gauck geht mit einem großen Vertrauensvorschuss ins Amt. Hoffen wir, dass er dem gerecht wird."
Süddeutsche Zeitung: "Gauck glaubt daran, dass Demokratie darin besteht, Zukunft miteinander zu gestalten – und nicht darin, sie allein von den gewählten Politikern gestalten zu lassen. Gauck könnte also ein Präsident sein, der das sperrige Wort Zivilgesellschaft entsperren kann. Wenn das die Kraft der Freiheit ist, an die Gauck so gern appelliert, dann freut man sich auf ihre Wirkung. (.) Demokratie muss man lernen, immer wieder, an jedem Tag, nicht nur an Wahltagen. Gauck lehrt, ja er predigt das."
Die Welt: „Von dieser Wahl geht aber vor allem wegen der Person des Bundespräsidenten kein Anti-Parteien-Affekt aus. Denn er ist trotz seiner persönlichen Parteienabstinenz ein lebhafter Befürworter des Parteienwesens. Er wird für die repräsentative, von Bürgern wie Parteien getragene Demokratie werben, und es steht nicht zu erwarten, dass er wie mancher Vorgänger der Versuchung erliegen wird, das erste Amt im Staate gegen die politische Klasse in Stellung zu bringen und sich in Schloss Bellevue als Oberlehrer der Nation aufzuführen. Joachim Gauck hat das Zeug zum Aufbruch in neue Gefilde und Gebirge. Er ist ein deutsch-deutscher Migrant und verkörpert den Auszug aus dem Reich der Unfreiheit und die Ankunft im verwirrenden, unübersichtlichen Reich der Freiheit.“
Der Tagesspiegel: „Nach gestern lässt sich mit einigem Recht herleiten, dass hier ein Deputierter des Volkes an die Spitze gekommen ist. Einer, der über die Gabe verfügt, wirklicher Volksvertreter zu sein. Wie er über diese Gabe verfügen will, auch darauf hat Gauck Hinweise gegeben. Er hat mehr als angedeutet, wie er seinen Freiheitsbegriff nutzen wird: als Freiheit nicht nur von etwas – das liegt hinter ihm, das ist ihm und der Mehrzahl der Menschen der versunkenen DDR vor Jahren gelungen -, sondern für und zu etwas. Für Europa, zum Beispiel, und für die Kinder der Menschen, die aus vielen fremden Ländern in dieses gekommen sind und es jetzt als ihres empfinden sollen. Wobei Gauck von Europa zuerst sprach. Er stellt sich in eine Traditionslinie, auch in die seines Vorgängers, was sagt: Seine Konservativität ist eine, die selbst einem Franz Josef Strauß hätte gefallen können, der meinte, der Konservative marschiere an der Spitze des Fortschritts – um ihn zu lenken. Über dieses Selbstbewusstsein verfügt der neue Präsident auch.“