Der Rostocker Theologe Joachim Gauck ist elfter deutscher Bundespräsident. Die Kanzlerin spricht von einem guten Tag für die Demokratie.
Berlin. Mit den Hierarchien ist das so eine Sache, wenn ein Mann von nicht weniger als vier Parteien nominiert worden ist. Welche Politikerin, welcher Politiker darf dem gewählten Staatsoberhaupt zuerst gratulieren? Ein vermeintliches Vorrecht der Bundeskanzlerin scheint es nicht zu geben.
Zumindest nicht an diesem Sonntagnachmittag im Bundestag. Diese ganz besondere Wahl eines überparteilichen Kandidaten hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Angela Merkel verharrt an ihrem Platz, als Sekunden nach der Verkündung des Ergebnisses SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Parteichef Sigmar Gabriel auf Joachim Gauck zugehen. Sie sind die ersten Gratulanten. Die Kanzlerin muss sich zwischen den Fraktionsspitzen der Grünen einreihen. Es mag ein Zufall in diesem Bild liegen. Seine Symbolkraft aber ist unübersehbar. Wäre es nach SPD und Grünen gegangen, hätte Gauck schon im Sommer 2010 Bundespräsident werden sollen. Man hatte gemeinsam der Kanzlerin den Kandidaten vorgeschlagen. Nur Merkel setzte nach dem Rücktritt Horst Köhlers lieber auf Christian Wulff.
+++ "Ich bin nicht mehr der Bürger Gauck" +++
Gauck mag in dem Moment der Wahlverkündung offiziell der gemeinsame Präsident von Union, FDP, SPD und Grünen sein. Steinmeiers forscher Auftritt allerdings soll natürlich der Öffentlichkeit klarmachen: Hier hat die Opposition einmal recht behalten und nicht die Kanzlerin. Später, als die Parteien auf der Fraktionsebene oberhalb des Plenums bei Sekt und Häppchen ihre gute Wahl feiern und Gauck unten von Fernsehinterview zu Fernsehinterview wandern muss, kann auch Steinmeier seine Genugtuung kaum verbergen. Nein, geplant habe er das nicht, vor der Kanzlerin beim Präsidenten zu sein. Er sei vielmehr seinem inneren Drang gefolgt, als der Moment günstig gewesen sei, sagt er.
Für SPD, Grüne und auch die FDP, die die Kanzlerin bei der Kandidatenfrage vor vollendete Tatsachen gestellt und Gauck erst ermöglicht hatte, ist der Wahltag schlicht ein Triumph. Aus diesen Parteien ist schnell zu hören, dass 108 Enthaltungen doch eine zu große Zahl seien. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagfraktion, Thomas Oppermann, vermutet die Union dahinter. Er sei aber sicher, so Oppermann, "dass Bundespräsident Gauck durch seine Arbeit auch diejenigen überzeugen wird, die ihm jetzt noch nicht ihre Stimme geben konnten".
Natürlich muss auch der neue Bundespräsident etwas zu dem Wahlergebnis sagen, und er tut es in aller Diplomatie. "Das ist für mich natürlich ein Ansporn noch einmal deutlicher zu machen, zum Beispiel was ich unter Freiheit verstehe", so der 72-Jährige. Über die Enthaltungen sei er nicht verwundert, da er ein Mensch "mit Ecken und Kanten" sei. Das Ergebnis habe seine Erwartungen sogar übertroffen.
+++ Liveticker zur Wahl: 991 Stimmen für Joachim Gauck+++
Als Gauck die Fragen zu dem Ergebnis in aller Geduld beantwortet, ist die Last der letzten Unsicherheit über den Ausgang dieses Tages längst von ihm abgefallen. Der Tag hatte in relativer Vertrautheit für den aus Rostock stammenden Pastor begonnen. Im ökumenischen Gottesdienst, an dem auch die Kandidatin der Linken, Beate Klarsfeld, und Kanzlerin Merkel teilnahmen, war Gauck an seine beruflichen Wurzeln erinnert worden. In der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt hatte Prälat Karl Jüten, der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, aber auch an Christian Wulff erinnert und dem zurückgetretenen Staatsoberhaupt seinen Dank ausgesprochen.
Jüten hatte zugleich deutliche Worte an Gauck und Klarsfeld gerichtet: "Ich habe auch eine Bitte an Sie, die oder den Gewählten: Führen Sie dieses Amt so, dass wir nicht schon bald wieder zusammenkommen müssen." Ein Gedanke, den Bundestagspräsident Norbert Klammert (CDU) in seiner Begrüßung der 1232 Wahlleute aufnimmt: "Nach dem Grundgesetz wird der Bundespräsident für fünf Jahre gewählt", sagt er gleich zu Beginn und muss schon innehalten, weil Gelächter im Plenum aufbrandet. Auf der Gästetribüne müssen auch Gauck und seine Lebensgefährtin Daniela Schadet über die unfreiwillige Komik dieses Satzes lachen. Lammert setzt mit ernsten Worten fort. "Dass die Abstände in jüngerer Zeit immer kürzer wurden, wird niemand für eine Errungenschaft halten. Wir sollten uns alle bemühen, die politische Realität auch in dieser Hinsicht wieder näher an die Verfassungsnorm zu bringen."
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Über Wulff sagt Lammert, dass die Umstände des Rücktritts und die Gründe, die dazu geführt haben, erst mit angemessenem Abstand zu den Ereignissen fair zu bewerten seien. Es gebe durchaus Anlass für selbstkritische Betrachtungen, nicht nur an eine Adresse. Lammert spricht an dieser Stelle von der "öffentlichen und veröffentlichten Meinung". Es wird offensichtlich, dass ihm die Rolle der Medien in der Causa Wulff nicht gefallen hat.
Gauck hört Lammert konzentriert zu. Die Nervosität ist ihm dabei anzumerken. Sein Mund ist ständig in Bewegung. Immer wieder fahren seine Finger über seine Lippen. Gauck braucht einige Zeit, um sich an die absolute Aufmerksamkeit seiner Person zu gewöhnen, an die Kameras, die auf ihn gerichtet sind. Zweieinhalb Stunden später tritt er als Bundespräsident ans Rednerpult. Mit einem einfachen Satz, pathetisch und doch demütig gesprochen, gelingt es ihm, das Plenum für sich zu gewinnen. "Was für ein schöner Sonntag!" Gauck meint diesen Satz doppeldeutig. Er erinnert an den 18. März 1990, die erste und letzte freie Volkskammerwahl der DDR, und an das Lebensgefühl jener ungekannten Selbstbestimmung. "Wir, das waren Millionen Ostdeutsche, die nach 56-jähriger Herrschaft von Diktatoren endlich Bürger sein durften." Zum ersten Mal in seinem Leben im Alter von 50 Jahren habe er in freier, gleicher und geheimer Wahl bestimmen dürfen, wer künftig regieren solle. Er selbst habe sich damals gesagt: "Ich werde niemals eine Wahl versäumen." Ganz so fest, wie man seine Stimme sonst kennt, ist sie in den Minuten seiner Rede nicht. Gauck zeigt, dass er bewegt ist. Und er versichert, dass es bei seinem großen Thema, der Freiheit, in den kommenden Jahren nicht allein bleiben soll. Er wolle sich auf neue Themen, Probleme und Personen einstellen. "Ganz sicher" werde er dabei nicht alle Erwartungen erfüllen können.
Bisher konnte Joachim Gauck sich so viel Zeit nehmen, wie er wollte, um sich auf Reden und Lesungen vorzubereiten. Diese Freiheit zumindest wird dem pensionierten Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen nun beschnitten. Die ersten Termine hat ihm das Bundespräsidialamt bereits diktiert: Heute trifft er im Schloss Bellevue Bundesratspräsident Horst Seehofer (CSU) und Vorgänger Wulff aus "Anlass der Übergabe des Amtssitzes". Am Freitag wird Gauck wieder im Bundestag erwartet - diesmal zu seiner Vereidigung.