Kein Präsident begann mit größerem Vertrauensvorschuss - Segen und Fluch zugleich
Eigentlich muss man Christian Wulff dankbar sein: Der gescheiterte Bundespräsident hat dem ostdeutschen Theologen Joachim Gauck erst den Weg ins Schloss Bellevue ermöglicht, der ihm nach menschlichem Ermessen sonst versperrt gewesen wäre. Zwar war Gauck vor zwei Jahren bereits Kandidat in der Bundesversammlung, aber damals war er für die rot-grüne Opposition eher Teil ihrer Strategie als ihr Mann der Herzen.
Denn Gauck ist ein politischer Außenseiter. Weder ist er Mitglied einer Partei, noch blickt er auf eine klassische Politkarriere zurück. Gauck kommt wie die Kanzlerin aus Ostdeutschland, ist durch und durch protestantisch geprägt und führt permanent ein Wort im Mund, das Parteien schnell unter die Fünf-Prozent-Hürde zu drücken vermag: Freiheit. Zudem verlässt Gauck als Querdenker gern den politisch korrekten Sektor: Er verteidigte den umstrittenen Autor Thilo Sarrazin, indem er ihm Mut bescheinigte, das Problem mangelnder Integration anzusprechen. Die Kapitalismuskritik der vergangenen Monate nannte er "albern". Die kommenden Jahre im Schloss Bellevue also dürften spannend werden - spannend nicht wegen privater Kredite, Schnäppchen oder kleiner Geschenke, sondern hoffentlich wegen seiner intellektuellen Anstöße.
Auch hier profitiert der neue Bundespräsident von den Fehlern seiner Vorgänger. Die Menschen vergleichen Amtsinhaber - das war bei der Bürgerschaftswahl 2011 in Hamburg so, das wird auch bei Gauck so sein. Sein großer Rückhalt ist der Vertrauensvorschuss: 80 Prozent der Deutschen halten Gauck für glaubwürdig. Glaubwürdigkeit ist die Macht eines Bundespräsidenten. Er hat nur das Wort. Was aber wiegt das Wort, wenn der Sprecher für zu leicht befunden wird? Christian Wulff musste diese Erfahrung machen: Er hielt Ende Januar zum 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz eine bewegende und kluge Rede. Doch seine Botschaft verpuffte angesichts einer Zahl: Nur ein knappes Drittel hielt Wulff damals noch für glaubwürdig.
Beträchtlich ist auch der Vertrauensvorschuss durch die Bundesversammlung. Keiner seiner Vorgänger konnte sich bei der ersten Wahl auf eine so große Zustimmung stützen. Zudem gibt es eine neue Nachdenklichkeit, die dem Amte angemessen ist und den Präsidenten vor überzogener Kritik zunächst schützen dürfte. Die mediale und politische Hysterie der letzten Amtstage von Wulff ist vorbei, vergessen ist sie nicht. Eine Wiederholung, das zeigte der Tag in der Bundesversammlung, wünscht niemand.
Und doch wird die Amtszeit von Gauck kein Selbstläufer. Der Vertrauensvorschuss an den 72-Jährigen ist Segen und Fluch zugleich. Völlig zu Recht warnte der Prälat Karl Jüsten im ökumenischen Gottesdienst: "Halten wir Maß. Überfordern wir unseren neuen Bundespräsidenten nicht mit zu hohen Erwartungen."
Die hegt das Volk längst an seinen Bürgerpräsidenten. Zwei Drittel der Deutschen erwarten, dass Gauck sich für sozial Schwache einsetzen wird. 67 Prozent rechnen damit, dass er den Parteien deutlich seine Meinung sagen wird. Drei Viertel wünschen sich, dass er sich vordringlich mit den Themen Freiheit und Familie beschäftigen wird, 65 Prozent erwarten ein Engagement zur Bekämpfung der Finanzkrise, 51 Prozent Anstrengungen zur Vollendung der Einheit und 49 Prozent hoffen, dass Gauck Stellung zum Thema Afghanistan bezieht. Dieser Mix an Erwartungen zeigt zweierlei: Die Deutschen wünschen sich eine Instanz wie den Bundespräsidenten, die Tacheles zu reden vermag. Zugleich aber ist klar, dass er es nicht allen recht machen kann.
Die Stärke des Theologen aus dem Nordosten könnte sein, dass er wahrlich unabhängig ist - er ist keiner Partei verpflichtet, nur dem Amt. Mehr als seine Vorgänger ist er ein Bürgerpräsident.
Wünschen wir Joachim Gauck viel Glück. Er wird es brauchen.