Wahl zum Bundespräsident bedeutet für Gauck auch: “Ich muss richtig an mir arbeiten.“ Amt wirkt wie eine Krönung seines wechselhaften Lebens.
Wenn ich den Sommer besuchen will, habe ich es nicht weit. Auf dem Fischland, östlich von Rostock an der mecklenburgischen Küste, kühlt er seine Hitze zwischen Ostsee und Bodden. Dort, wo das Land zwischen den Wassern auf gerade einmal 500 Meter zusammenschrumpft, liegt das Ostseedorf Wustrow." Mit diesen Worten hat Joachim Gauck die Niederschrift seiner Autobiografie begonnen. Zu einem Zeitpunkt, da er sich in der Politik abgemeldet fühlte. Als er nicht mehr "Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" war, sondern nur noch "Vorsitzender des Unabhängigen Beratergremiums für Stasifragen des Deutschen Olympischen Sportbundes". Schmerzhaft muss das für einen wie ihn gewesen sein, der sich so gern im Rampenlicht sah und noch viel lieber predigen hörte. Der sich selbst den Ehrentitel "reisender Demokratielehrer" verliehen hatte und vergeblich auf neue interessante Aufgaben in der Politik wartete. Schlimmer noch. Es war eine Zeit, in der Joachim Gauck über sich in der Zeitung lesen musste, dass er in Vergessenheit geraten sei.
+++ "Ich sage mit allen Kräften Ja" - 991 Stimmen für Joachim Gauck +++
Damals hat er sich auf sich selbst besonnen. Gauck selbst hat diesem Buch, das 2009 erschien, eine therapeutische Wirkung zugeschrieben. "Ich habe gemerkt", hat er gemeint, "dass ich mich als 69-jähriger Mann noch mal verändern konnte." Die Familie, der er sich entfremdet hatte, wusste es zu schätzen. Sein Vater habe beim Schreiben wohl begriffen, dass er nicht alles wegschieben könne und auch Fehler gemacht habe, hat Gaucks ältester Sohn Christian anerkennend gesagt. Und von heilsamen Aussprachen berichtet, zu denen es anschließend gekommen sei. Und: Der Vater sei heute ein völlig anderer, warmherziger Mensch.
Das Buch - "Winter im Sommer, Frühling im Herbst" - ist ein großer Erfolg geworden. Im Titel, der so wunderbar poetisch daherkommt, sind die beiden entscheidenden Zäsuren in Gaucks Leben verschlüsselt: der Augenblick, in dem der Vater verschwand, und die Tage, in denen die DDR zusammenbrach.
Der 27. Juni 1951 war der Tag, an dem der Vater zu zwei unbekannten Männern in einen blauen Opel stieg. Auf der Rostocker Neptunwerft, auf der er als Arbeitsschutzinspektor arbeitete, habe sich ein schwerer Unfall ereignet, hieß es. Tatsächlich brachte man ihn in das berüchtigte Gefängnis am Demmlerplatz, wo der sowjetische Geheimdienst wütete. Weil man eine nautische Fachzeitschrift aus dem Westen bei ihm gefunden hatte, wurde der ehemalige Hochseekapitän wegen antisowjetischer Hetze zu 25 Jahren Zwangsarbeit in einem sibirischen Gulag verurteilt.
"Das Schicksal unseres Vaters", heißt es in Gaucks Autobiografie, "wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus." Die Grenzen des Anstands seien fest umrissen gewesen. "'Wenn euch jemand fragt, wann ihr in die Pioniere eintretet', schärfte Mutter uns Kindern wiederholt ein, 'dann antwortet ihr: 'Ihr könnt wieder nachfragen, wenn wir wissen, wo unser Vater ist und wann er wiederkommt.'" Gaucks Vater ist wiedergekommen. Im Oktober 1955, nachdem Konrad Adenauer in Moskau erfolgreich über die Freilassung der 10 000 deutschen Kriegsgefangenen und 20 000 Zivilinternierten verhandelt hatte. Der Sohn erkannte am Vater eine neue Sicherheit und Festigkeit. Er war beeindruckt, wie frei und unangepasst der Mann, der jetzt im Rostocker Hafen als Lotse arbeitete, fortan durchs Leben ging. Der die Aufforderung, in die SED einzutreten, generell mit der Gegenfrage "Wollen wir etwa über den Kommunismus diskutieren?" beantwortete. Der ironisch die Augenbrauen hochzog, wenn ihn jemand mit "Genosse" anredete und dann sagte: "Habe ich mich verhört?"
Schaut man auf den Gauck-Clan, so scheint es, als sei diese Familie in der DDR geblieben, um das Regime persönlich und aus nächster Nähe untergehen zu sehen. Dass man ihr das Haus der Großmutter in Wustrow wegnahm, machte den zornigen Trotz der Gaucks nur noch größer. Der ganze Widerstandsgeist der Familie sprach aus dem Sohn, als er dem Politbüro 1988 vom Rostocker Kirchentag aus zurief: "Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen!" Was für eine Kampfansage. Von da an hat man sich den Namen Gauck im Westen gemerkt.
Der 72-Jährige scheint von starkem Selbstbewusstsein beseelt
Er selbst hat allerdings nie daran gedacht, die DDR zu verlassen. Er sei nicht geblieben, weil er gemusst, sondern weil er gewollt habe, sagt Gauck gern. Dass der eine oder andere in der Familie mit seiner Entscheidung nicht einverstanden war, hat er erst begriffen, als seine beiden Söhne Christian und Martin anfingen, um ihre Ausreise zu kämpfen. Weil sie erkannten, dass ihren Kindern das bevorstand, was sie selbst erlebt hatten: Ausgrenzungen und Schikanen. Unbeugsam ist der Vater seinen Söhnen damals erschienen. Dass er, der seine Verbindung zu Richard von Weizsäcker dazu nutzte, sich für die Ausreise anderer einzusetzen, aber keinen Finger für seine eigenen Söhne rührte, haben sie ihm lange nicht verziehen. Der Selbstgerechtigkeit Joachim Gaucks hat die Ausreise der beiden Söhne im Dezember 1987 keinen Abbruch getan: Als so viele dem Land den Rücken gekehrt hätten, habe man sich eben als harter Kern des Widerstands verstanden, sagt er.
Mit derselben Rigorosität und Selbstgerechtigkeit hatte Gauck seine Frau und die Kinder zuvor dem eigenen Lebensplan unterworfen. Er fragte sie nicht, als er sie 1970 aus dem idyllischen Lüssow, wo er 1967 seine erste Pfarrstelle angetreten hatte, in eine Plattenbauwüste im Rostocker Nordwesten verfrachtete. Er hielt es für selbstverständlich, in der eigenen, viel zu kleinen Wohnung Bibelabende abzuhalten und Konfirmandenunterricht zu geben. Wenn Gauck heute von diesen Jahren spricht, in denen er sich die Christen als Pastor mühsam zusammensuchte, hört sich das so an: "Als ich nach Evershagen zog ...", "Mit relativ gutem Gewissen habe ich die Familie dem Beruf nachgeordnet ...", "Es war wie die Entsendung in ein Missionsland ..."
Zum Dossier: Joachim Gauck ist Deutschlands neuer Bundespräsident
Tatsächlich scheint der inzwischen 72-Jährige bis heute von starkem Sendungsbewusstsein beseelt. Vor allem die Freiheit ist sein Thema. Und zwar nicht nur die Freiheit eines Christenmenschen, sondern die Freiheit des Staatsbürgers. Das ist ihm im Vorfeld der Wahl vielfach als "zu wenig" angekreidet worden. Andererseits leuchtet das Wort wieder, seit Joachim Gauck davon spricht. Die Anziehungskraft Joachim Gaucks bestehe aber gerade darin, dass man ihm das Vergnügen an der Freiheit anmerke, hat der Philosoph Rüdiger Safranski festgestellt. "Dieses Vergnügen ist bei ihm unverbraucht." Und: "Es hat etwas Ansteckendes, eine Figur des öffentlichen Lebens auf diese Weise agieren zu sehen."
Joachim Gauck hat Theologie studiert, weil ihm der Zugang zum Germanistikstudium versperrt war. Der Schüler Gauck befinde sich "im Stadium kritischer Auseinandersetzung mit der Umwelt", hatte der Direktor der Rostocker Goethe-Oberschule 1958 in seiner Abschlussbeurteilung geschrieben. Später kam es noch dicker. Ein psychiatrisches Gutachten der Nervenklinik Rostock, die Joachim Gauck 1964 begutachtete, nachdem er um Verlängerung seiner Studienzeit gebeten hatte, bescheinigte ihm eine "abnorme Persönlichkeit". Und in der Stasi-Akte war von "anmaßendem und frechem Auftreten" die Rede. Gauck, hieß es da, sei ein "unbelehrbarer Antikommunist".
Einen charismatischen Redner hat diese Republik nicht
Die theologischen Fakultäten waren in der DDR der einzige Raum, der nicht dem unmittelbaren Zugriff von Staat und Partei ausgesetzt war, in dem die Existenz nicht an Unterordnung gebunden war. Zu Hause war man trotzdem nicht begeistert. "Mein Vater", schreibt Gauck, "hat meine Berufswahl zunächst nicht gutgeheißen. Wenn seine Kinder Offiziere, Schauspieler oder Pastor werden sollten, hat er mehrfach in der ihm eigenen bissigen Weise erklärt, würde er Widerspruch anmelden. Warum? 'In diesen Berufen fällt das Mittelmaß besonders auf.'" Von Mittelmaß kann nun wirklich keine Rede sein. Einen charismatischeren, mitreißenderen Rhetor hat die Republik nicht. Gauck gehört zu den vielen Theologen, die 1989 in die Politik gegangen sind. Beflügelt von den neuen Möglichkeiten, die sich ihnen auftaten, befähigt durch die protestantische Diskurskultur, an der sie sich geschult hatten.
Wer Gauck live erlebt, muss sich zuweilen der eigenen Tränen erwehren. Zum Beispiel wenn Gauck beschreibt, wie man in einer Diktatur über sich hinauswachsen konnte. Oder wie am Ende der Mut der Unterdrückten über die Angst siegte. Er selbst hat auch nahe am Wasser gebaut. Manchmal bricht Joachim Gauck die Stimme, wenn er sich reden hört. Das ist einnehmend bei einem Kandidaten für einen Bundespräsidenten, aber er weiß, das kann auch peinlich sein. "Ich muss richtig an mir arbeiten", hat Joachim Gauck vor einer Woche gesagt, "mich beraten lassen. Welches ist der Weg, authentisch zu bleiben und doch nicht wie ein Provokateur zu wirken? Ich bin dann", hat er mit etwas mulmigem Blick auf die bevorstehende Wahl hinzugefügt, "ja nicht mehr der Bürger Gauck, sondern die BRD."
Stimmt. Das ist er jetzt. Ein paar Leute haben vorher noch versucht, ihm ein bisschen am Zeug zu flicken. Nach dem Motto, der Mann lebt mit einer anderen Frau zusammen, obwohl er mit der Mutter seiner vier Kinder (Joachim Gauck hat auch zwei Töchter) noch verheiratet ist - geht das denn? Muss er sich nicht scheiden lassen? Nachdem das öffentlich gründlich durchgekaut worden ist, weiß man jetzt, dass sich das Ehepaar Gauck längst ausgesöhnt hat und dass die Kinder ebenfalls ihren Frieden mit der Situation gemacht haben.
+++ Liveticker zur Wahl: 991 Stimmen für Joachim Gauck+++
Schwerer wog der Anwurf, ein richtiger Bürgerrechtler sei Gauck doch nie gewesen. Das sagten vor allem jene, die sich nach dem Mauerfall den berühmten "dritten Weg" gewünscht haben. Eine Art Sozialismus light. Und für die Linkspartei bleibt Joachim Gauck auch zwölf Jahre nach seinem Ausscheiden als Stasi-Beauftragter ein rotes Tuch. Ihr Zentralorgan, das "Neue Deutschland", hat noch an diesem Donnerstag die infame Behauptung aufgestellt, Gauck hätte Unschuldige in den Selbstmord getrieben. Zitat: "Wie viele Menschen in den 90er-Jahren nach - teils aus banalen oder gar falschen - Akten-'Enthüllungen' Suizid begingen, ist bislang nicht exakt ermittelt worden ..."
Nun, die Linke wird ihn ertragen müssen. Sie wird von diesem Bundespräsidenten immer wieder daran erinnert werden, dass der Rechtsstaat, an dessen Spitze er nun steht, nicht bereit ist, über Unrecht Gras wachsen zu lassen. Dem Zähneknirschen von Gysi, Lötzsch & Co. wird allerdings die Freude der anderen gegenüberstehen. Denn mit der Erinnerung an die DDR belebt Joachim Gauck ja auch immer die Erinnerung an die Zeit der Wiedervereinigung wieder. Die tritt jedem, der diesem Mann zuhört, vor Augen, und die Wirkung ist immer aufs Neue unwiderstehlich.
Fotos vom 3. Oktober 1990, an dem Deutschland offiziell vereinigt wurde, zeigen Joachim Gauck mit seiner Frau auf den Stufen des Reichstags. Da steht er hinter Bundeskanzler Helmut Kohl und dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Zwölf Jahre später rückt Joachim Gauck nun in die erste Reihe vor. Was für eine total verrückte, schöne Geschichte.
Pressestimmen zum neuen Bundespräsidenten
Bild-Zeitung: "Selten ist ein Bundespräsident mit so gewaltiger Mehrheit gewählt worden. Einziger Wermutstropfen: 108 Enthaltungen, die wohl aus Gaucks eigenem Unterstützer-Lager stammen. Ein geschwächter Präsident? Alles Unsinn! Honecker-Ergebnisse von 99 Prozent hat ein frei gewählter Präsident nicht nötig. Einer, der niemandem nach dem Munde redet, kann mit Gegenrede gut leben. Gauck ist gerade kein „Konsens-Präsident“, sondern einer, der frischen Wind will – auch Gegenwind. Deshalb sagt er Dinge, die oft vergessen werden: Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit, sondern fordert viel – von allen. Aber Joachim Gauck weiß auch: Freiheit braucht Verantwortung. Integration braucht selbstbewusste Gastgeber; soziale Gerechtigkeit braucht eine starke Wirtschaft. Ein starkes Programm. Kann er das schaffen? Ja, er kann!"
Frankfurter Rundschau: "Joachim Gauck hat gestern angekündigt, dass er ein lernender Präsident sein werde. Einer, der nicht von vornherein alles weiß, der zuhören will. Einer, der den Graben zwischen Politik und Bürgern überwinden, nicht vertiefen will. Einer, der den Menschen abverlangen wird, ihre Verantwortung für die Generation der Kinder und Enkel wahrzunehmen. Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, hat vor Gaucks Wahl die Medien aufgerufen, der Politik nicht nur mit Vorbehalten zu begegnen, sondern den Politikern auch Vertrauen entgegen zu bringen. Gauck geht mit einem großen Vertrauensvorschuss ins Amt. Hoffen wir, dass er dem gerecht wird."
Süddeutsche Zeitung: "Gauck glaubt daran, dass Demokratie darin besteht, Zukunft miteinander zu gestalten – und nicht darin, sie allein von den gewählten Politikern gestalten zu lassen. Gauck könnte also ein Präsident sein, der das sperrige Wort Zivilgesellschaft entsperren kann. Wenn das die Kraft der Freiheit ist, an die Gauck so gern appelliert, dann freut man sich auf ihre Wirkung. (.) Demokratie muss man lernen, immer wieder, an jedem Tag, nicht nur an Wahltagen. Gauck lehrt, ja er predigt das."
Die Welt: „Von dieser Wahl geht aber vor allem wegen der Person des Bundespräsidenten kein Anti-Parteien-Affekt aus. Denn er ist trotz seiner persönlichen Parteienabstinenz ein lebhafter Befürworter des Parteienwesens. Er wird für die repräsentative, von Bürgern wie Parteien getragene Demokratie werben, und es steht nicht zu erwarten, dass er wie mancher Vorgänger der Versuchung erliegen wird, das erste Amt im Staate gegen die politische Klasse in Stellung zu bringen und sich in Schloss Bellevue als Oberlehrer der Nation aufzuführen. Joachim Gauck hat das Zeug zum Aufbruch in neue Gefilde und Gebirge. Er ist ein deutsch-deutscher Migrant und verkörpert den Auszug aus dem Reich der Unfreiheit und die Ankunft im verwirrenden, unübersichtlichen Reich der Freiheit.“
Der Tagesspiegel: „Nach gestern lässt sich mit einigem Recht herleiten, dass hier ein Deputierter des Volkes an die Spitze gekommen ist. Einer, der über die Gabe verfügt, wirklicher Volksvertreter zu sein. Wie er über diese Gabe verfügen will, auch darauf hat Gauck Hinweise gegeben. Er hat mehr als angedeutet, wie er seinen Freiheitsbegriff nutzen wird: als Freiheit nicht nur von etwas – das liegt hinter ihm, das ist ihm und der Mehrzahl der Menschen der versunkenen DDR vor Jahren gelungen -, sondern für und zu etwas. Für Europa, zum Beispiel, und für die Kinder der Menschen, die aus vielen fremden Ländern in dieses gekommen sind und es jetzt als ihres empfinden sollen. Wobei Gauck von Europa zuerst sprach. Er stellt sich in eine Traditionslinie, auch in die seines Vorgängers, was sagt: Seine Konservativität ist eine, die selbst einem Franz Josef Strauß hätte gefallen können, der meinte, der Konservative marschiere an der Spitze des Fortschritts – um ihn zu lenken. Über dieses Selbstbewusstsein verfügt der neue Präsident auch.“