Der Bundestag stimmt dem zweiten Griechenland-Hilfspaket zu - das schwarz-gelbe Lager verweigert Angela Merkel jedoch die Geschlossenheit.
Berlin. Sieben Stimmen. Viel ist das nicht. Sieben Abgeordnete haben Angela Merkel am Ende eines langen Tages um die symbolisch so wichtige Kanzlermehrheit gebracht. 304 Parlamentarier aus Union und FDP stimmten am Montag für das zweite Rettungspaket für Griechenland, 311 wären allerdings nötig gewesen, um der Bundeskanzlerin die eigene Mehrheit zu beschaffen - und sie damit vor einem Gesichtsverlust zu bewahren.
Gerechnet hatte man damit nicht. Sicher, einige wenige Abweichler waren bekannt. Dass aber bei insgesamt 326 Abgeordneten aus dem schwarz-gelben Lager die Zahl von 311 unterschritten wird, schien unwahrscheinlich. Allerdings: Die Skepsis war hoch. Gestern ging es um ein Paket von 130 Milliarden Euro - selten wurde über eine so große Summe entschieden. Und selten ging es um ein Projekt, das Merkel so sehr zu einer Hauptaufgabe ihrer Kanzlerschaft erkoren hat. In den Stunden vor der Abstimmung hatten die Spitzen der schwarz-gelben Regierung deshalb noch ihr Möglichstes versucht, die eigenen Reihen zu schließen. Genützt hat es wenig. Das Protokoll des Tages.
+++ Erst geachtet, jetzt gescholten +++
+++ Griechen-Hilfe: Merkel verfehlt Kanzlermehrheit +++
+++ EU-Parlamentspräsident Schulz hält Rede in Athen +++
7.10 Uhr: Für Peter Altmaier müsste ein neues Wort erfunden werden: der Rückenfreihalter. Seit Monaten steht der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag stramm und erklärt die Politik der Bundeskanzlerin - vor allem dann, wenn es um den Euro geht. So auch an diesem Morgen. Es ist nicht nur der Tag der großen Abstimmung, sondern auch der Tag, nachdem das erste Mitglied der Bundesregierung offen für einen Austritt Athens aus der Euro-Zone plädiert hat. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hat sich mit dieser Forderung gegen den Kurs der Kanzlerin gestellt. Altmaier muss das erklären. "Ich bin überzeugt, dass die Regierung und die Fraktion gemeinsam in großer Geschlossenheit heute diese Entscheidungen mittragen werden."
10.46 Uhr: FDP-Generalsekretär Patrick Döring steht in der FDP-Zentrale und redet sich in Rage. Vor allem geht es dabei um seinen "geschätzten Koalitionspartner" von der CSU. Ohne Friedrich beim Namen zu nennen, poltert der Generalsekretär gegen die "Doppelstrategie" der CSU, zum einen zwar die Griechenland-Beschlüsse mitzutragen, zum anderen aber "bei voller Fahrt die Frage einer Vollbremsung" des Regierungskurses zu diskutieren. Auf die Frage, ob er sicher sei, dass das zweite Paket Erfolg haben werde, sagt er lapidar: "Gewissheit hat man nie." Und: "Ich bin überzeugt, dass die Koalition eine eigene Mehrheit haben wird."
11.35 Uhr: Wie verärgert Merkel über die Äußerungen ihres Innenministers ist, kann man an den Worten ihres Regierungssprechers schwer ablesen. Steffen Seibert sagt jedenfalls, Merkel rechne fest mit Friedrichs Zustimmung - und mit dem Erreichen der so wichtigen Kanzlermehrheit. Auch habe es im Bundeskabinett keine Diskussionen über etwaige Anreize für einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone gegeben. Merkelsche Machtworte waren schon immer verklausuliert. Wenig später muss der zurechtgewiesene Minister persönlich klarstellen, dass er die Finanzhilfe für Athen für richtig hält. "Sonst würde ich ja nicht zustimmen." Er zweifle "überhaupt nicht" am Rettungskurs der Kanzlerin.
13 Uhr: Fraktionssitzung der FDP. Bevor sich die Türen schließen, sagt Fraktionschef Rainer Brüderle, er rechne mit bis zu fünf Neinstimmen in seiner Partei. Exakt so viele FDP-Abgeordnete haben sich im Vorfeld offen zu ihrem Nein bekannt. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) kommt zur FDP, um noch einmal das Paket zu erklären. Euro-Rebell Frank Schäffler meldet sich zu Wort und verlangt eine Erklärung, was es mit Friedrichs Äußerung auf sich habe. Schäuble sei nur ausgewichen, berichten Teilnehmer später.
15 Uhr: Philipp Rösler kommt gerade noch rechtzeitig. Eben hat Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) die Sitzung des Parlaments eröffnet, als auch der Vizekanzler auf der Regierungsbank Platz nimmt. Er und Merkel schütteln sich die Hände, lächeln knapp. Seit den Querelen um die Gauck-Nominierung ist das Verhältnis der beiden nicht zum Besten bestellt.
Die Kanzlerin hält ihre Regierungserklärung und bittet die Abgeordneten zur Zustimmung zum Rettungspaket. Sie tut das nicht laut oder leidenschaftlich, sondern sachlich und warnt vor unkalkulierbaren Risiken und einer Kettenreaktion, wenn die Euro-Zone Griechenland nicht helfe. Das habe Auswirkungen auf andere Schuldenländer, die Euro-Zone und "letztlich auf die ganze Welt". Und, ohne dabei die Tonlage zu verändern: "Als Bundeskanzlerin soll und muss ich zuweilen Risiken eingehen, Abenteuer aber darf ich nicht eingehen. Das verbietet mein Amtseid."
Von der SPD darf der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück zur Replik antreten. Er wirft Merkel vor, sie habe die Dimension der Griechenland-Krise lange unterschätzt. Das aktuelle Griechenland-Paket sei "auf ein sehr dünnes Eis gesetzt".
16.40 Uhr: Auch die Hamburger Parlamentarierin Sylvia Canel wird nicht zustimmen. Vor dem Plenarsaal zeigt sie sich im Abendblatt-Gespräch ungerührt von Merkels Rede. Sie sehe sich bestätigt in der Haltung, dass die Rettungsschirmpolitik nicht die richtige sei. Diese führe zu immer höheren Bürgschaften und Hilfszahlungen, "während Griechenlands Schulden steigen und die Wirtschaftskraft abnimmt", so Canel. "Es ist schon jetzt an den vorliegenden Zahlen zu erkennen, dass der Bundestag einem dritten Griechenland-Paket zustimmen und das Land damit weiter in die Schuldenfalle treiben wird." Canels Prognose: "Es wird darauf hinauslaufen, dass Griechenland aus dem Euro austreten und Strukturreformen für ein günstiges Investitionsklima mit verlässlichen Rahmenbedingungen schaffen muss. Ich begrüße sehr, dass auch kritische Stimmen in der Union dies so sehen."
17.40 Uhr: Das Ergebnis steht fest. Der Bundestag hat das zweite Rettungspaket gebilligt, die Milliardenhilfe ist beschlossene Sache. 496 von 591 anwesenden Abgeordneten stimmten für das Paket - aber für die Kanzlermehrheit, das wird wenig später bekannt, hat es nicht gereicht. Zum ersten Mal, seit über Hilfen für den Euro oder Griechenland abgestimmt wird.
19.30 Uhr: Die Union schickt am Abend wieder Rückenfreihalter Peter Altmaier ins Feld. "Für Kanzlerin Angela Merkel bedeutet das Ergebnis die Gewissheit, dass weiterhin eine ganz große Mehrheit in der eigenen Koalition und im Bundestag insgesamt hinter ihrer Politik in der Euro-Krise steht", sagt er.
Für den Hamburger SPD-Abgeordneten Johannes Kahrs ist zur gleichen Zeit klar, woran es gelegen hat: an Friedrich. "Wenn ein Minister nicht steht, steht auch die Fraktion nicht", sagt Kahrs dem Abendblatt. Man könne als Bundeskanzlerin keinen Minister im Kabinett behalten, der so gegen die Kabinettsdisziplin verstoße. Für die Grünen ist das Schicksal Merkels mit dem Abstimmungsergebnis besiegelt. "Jetzt ist Kanzlerinnendämmerung", so Fraktionschef Trittin.