Gauck will der Kandidat aller Deutschen sein. Der frühere Chef der Stasi-Unterlagenbehörde wäre der erste Bundespräsident aus dem Osten.
Berlin. Das Deutsche Theater trägt seinen Namen nicht von ungefähr. Es war das Haus von Max Reinhardt, Gustaf Gründgens hat dort inszeniert, die größten Schauspieler sind da gefeiert worden: Heinrich George und Paul Wegener, die Dietrich, die Horney, die Hoppe. Es wird also kein Zufall sein, dass sich Joachim Gauck ausgerechnet das Deutsche Theater für seinen ersten großen Auftritt ausgesucht hat. Als prachtvolle Kulisse für seine mit Spannung erwartete Grundsatzrede.
Als Gauck die Bühne um elf Uhr betrat, war das Haus nahezu "ausverkauft". Die Schriftstellerin Monika Maron hatte den ehemaligen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zuvor als den Kandidaten gerühmt, der für Überparteilichkeit bürge. Hatte ihrer Empörung über den unausgesprochenen Fraktionszwang bei der Bundespräsidentenwahl Luft gemacht und das Verfahren eine "Farce" genannt und einen Beweis dafür, "wie das Politische auf das Parteipolitische verengt" werde. Unter dem Beifall von SPD-Chef Sigmar Gabriel und der Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth, die gekommen waren, um ihrem Kandidaten die ihm gebührenden Weihen zu geben.
Die Kameras waren in diesem Moment allerdings auf einen anderen gerichtet. Und zwar auf den CDU-Politiker Kurt Biedenkopf, der Angela Merkel am vergangenen Donnerstag aufgefordert hatte, die Wahl des Bundespräsidenten "freizugeben". Biedenkopf hatte mit der breiten Zustimmung in der Bevölkerung zur Kandidatur Joachim Gaucks argumentiert und sich durch diese Aktion großen Unmut in der Berliner CDU-Zentrale eingehandelt. Gabriel und Roth versuchten gar nicht erst, ihre Genugtuung darüber zu verbergen, dass Biedenkopf nun auch noch persönlich erschienen war.
Joachim Gauck, der im Januar 1940 in Rostock geboren wurde, Tod und Zerstörung in seiner Heimatstadt schon bewusst erlebte und nach Kriegsende mit ansehen musste, wie sein Vater abgeholt und nach Sibirien verschleppt wurde, hat gestern eindringliche Worte für das Leben in der untergegangenen DDR gefunden. Dort habe die Freiheitsliebe "einen Tarnanzug" getragen, hat er gesagt. Dort habe sie Schiller und Heine zitiert. Gauck hat beschrieben, wie man in der Diktatur über sich hinauswachsen konnte. Wie der Mut der Unterdrückten über die Angst siegte. Er konnte es beschreiben, "weil ich unter ihnen war, die sich staunend anschauten auf den Straßen und Plätzen unseres kleinen Landes: Bin ich das? Sind wir das? Sind wir tatsächlich so mutig?"
Gauck hat von der Angst vor der Freiheit gesprochen, die es im Osten Deutschlands immer noch gebe. Von der Furcht, die den Menschen offenbar erfasse, wenn er den lang ersehnten Raum der Freiheit endlich betrete. Er hat um Verständnis für diesen Reflex geworben. "Ich kenne viele, die einst fürchteten, eingesperrt zu werden, und jetzt fürchten, abgehängt zu werden", hat Gauck gesagt. Und hinzugefügt: "Das werden wir zu bearbeiten haben - auch wenn die Angst häufig eher da ist als die reale Gefahr."
Der parteilose Joachim Gauck wäre der erste Bundespräsident, der aus dem Osten stammt. Von ihm würde man andere Dinge hören als von Christian Wulff (CDU), der das Wort "Ermächtigung" vermutlich niemals in den Mund nehmen würde. Gauck hat es gestern mehrfach benutzt. Hat von den "Tagen der Ermächtigung vor 20 Jahren" gesprochen, "als wir die Nähe derer suchten, die Freiheit leben mochten, die Verantwortung wollten und konnten." Die Menschen hätten immer eine Wahl, hat er gesagt. "Die Flüchtenden verlassen die, die standhalten." Aber es sei "die verwegene Ratio jener, die standhalten", die erst den Weg in die Zukunft eröffne: "Wer Ja sagt zu seiner Freiheit, wer sie nicht nur will, sondern lebt, dem fließen Kräfte zu, die ihn und diese Welt verändern." Gauck hat zugleich an die "Gestalter und Ermutiger" erinnert, die die alte Bundesrepublik "zu einem Ort der Menschen- und Bürgerrechte" gemacht hätten, an dem gleiches Recht für alle gelte und wo sich Not in Wohlstand gewandelt habe.
Allerdings zeigten diese Passagen auch, wie sehr der Kandidat bemüht war, es in dieser Rede den Deutschen im Osten wie Westen recht zu machen. Denselben Spagat versuchte Gauck auch bei anderen Themen. Etwa, als er eine solidarische Gesellschaft anmahnte, von "mangelnder Beheimatung" der Migranten in Deutschland sprach und doch zugleich die mangelnde Integrationsbereitschaft "in bestimmten Milieus der Zuwanderer" tadelte.
Alles in allem war es trotz aller Eindrücklichkeit und rhetorischen Eleganz eine Sowohl-als-auch-Rede, mit der Gauck bei niemandem anecken wollte. Nicht bei denen, die ihn ins Rennen schicken - also bei der SPD und den Grünen -, aber eben auch nicht bei den Regierungsparteien. Überraschend war das nicht. Denn Joachim Gauck braucht am 30. Juni auch Stimmen aus dem Lager der Union und der FDP, wenn er sich gegen Christian Wulff durchsetzen will.
Als Sigmar Gabriel später euphorisch erklärte, der Kandidat der Opposition habe eine reelle Chance, saß Joachim Gauck bereits bei einem Italiener an der Albrechtstraße. Dass Gabriel den Regierungsparteien vorwarf, kritische Geister systematisch auszugrenzen - "Da zeigt der Parteienstaat noch einmal die Fratze, die die Leute ohnehin vermuten!" -, hat Gauck also nicht mehr miterlebt. Es wäre vermutlich wohl auch nicht in seinem Sinn gewesen.