Wie kann Deutschland Armut bekämpfen? Mit dem EU-Sozialkommissar Andor hat das Abendblatt über Hartz IV, Mindest- und Niedriglöhne gesprochen.
Hamburg/Brüssel. Hartz IV in Deutschland, Erhöhung des Rentenalters in vielen europäischen Ländern, Kinderarmut und Hilfen für Bedürftige – das sind quer durch Europa drängende politische Fragen. Auch die Europäische Union will handeln. 2010 wurde zum Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ausgerufen. Zum Start der Kampagne an diesem Donnerstag sprach das Hamburger Abendblatt mit dem neuen EU-Kommissar für Soziales und Arbeit, dem Ungarn Lazlo Andor.
Stichwort Hartz IV und Arbeitslosigkeit: Was tut die EU für Bedürftige in Deutschland?
Laszlo Andor: „Die EU fördert den Austausch von Ideen zwischen Mitgliedstaaten in diesem Bereich. Diese Koordinierungsaufgabe wird zudem finanziell mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) unterstützt. Der ESF fördert Ausbildungsmaßnahmen und andere Maßnahmen zum Wiedereinstieg ins Berufsleben. Deutschland erhält in der Periode 2008-13 rund 9 Milliarden Euro aus dem ESF. Ein Fünftel davon ist speziell darauf ausgerichtet, gegen soziale Ausgrenzung vorzugehen. Ein weiteres Instrument ist der Europäische Globalisierungsfond (EGF), der in Deutschland bereits 5000 Arbeitnehmern dabei geholfen hat, neue Jobs zu finden, nachdem sie von Nokia und BenQ entlassen wurden. Bisher haben rund 70 Prozent derer, die vom EGF unterstützt wurden, eine neue Stelle gefunden.“
Stichwort Niedriglöhne und Druck auf Langzeitarbeitslose: Was läuft falsch bei der Arbeitsvermittlung?
Laszlo Andor: „Lassen Sie mich ganz klar sagen: Es ist nicht die Aufgabe Europas, den nationalen Regierungen vorzuschreiben, dass sie Arbeitslose zur Arbeit zwingen sollen. Wir befürworten eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Das beinhaltet die finanzielle Unterstützung, aber eben auch eine qualitative hochwertige Vermittlung von Arbeitskräften und Beratungsleistungen für Arbeitslose. Es geht auch darum, Fehlanreize im Steuersystem zu reduzieren sowie Menschen im Arbeitsmarkt zu halten, die etwa andernfalls früher in Rente gehen würden.“
Stichwort Kinderarmut: Wie kann Deutschland von anderen EU-Ländern lernen?
Laszlo Andor: „Beim Kampf gegen die Kinderarmut müssen alle Seiten handeln. Am erfolgreichsten sind jene Länder, die die Einkommensunterstützung mit einem besseren Zugang zu Arbeit und staatlichen Leistungen wie Kinderbetreuung kombinieren. Dazu kommen kostenlose Mahlzeiten und Ganztagsschulen einschließlich außerschulischer Angebote. Auch der Zugang zu Gesundheitsleistungen und entsprechendem Wohnraum muss gewährleistet werden.
Im Fall von Deutschland werden die Anstrengungen hauptsächlich auf Kindergeld und Betreuung konzentriert. Der Anteil der Kinder, die in arbeitslosen Haushalten leben, ist hier mit 9,3 Prozent relativ hoch. Das liegt zwar nur knapp über dem EU-Durchschnitt, doch zwei Drittel der EU-Länder haben eine niedrigere Quote.
Um zu verhindern, dass die Armut von einer zur nächsten Generation übertragen wird, ist eine frühe Intervention in Erziehung und Gesundheit von entscheidender Bedeutung. Nur so kann allen Kindern eine Chance im Leben gegeben werden. Das hilft auch hinsichtlich der Bildungsabschlüsse die Kluft zwischen den verschiedenen Einkommensgruppen zu verringern.“
Stichwort Mindestlöhne: Sind sie ein vernünftiges arbeitsmarktpolitisches Mittel?
Laszlo Andor: „In vielen Mitgliedstaaten gibt es in der Tat Armut von Erwerbstätigen. Niedrige Einkommen resultieren aus niedrigen Löhnen und aus Situationen, in denen die Menschen nicht genug arbeiten können, weil sie nur Teilzeit oder befristet tätig sind – beide Fälle haben in den letzten zehn Jahren zugenommen. Seit Mitte der 90er Jahre hat Deutschland einen Anstieg der Zahl von Arbeitnehmern im Niedriglohnsegment erlebt. Dieser Trends wächst mit der Wirtschaftskrise und in dem Maße, wie mittlere Einkommen signifikant abnehmen. Es sieht auch so aus, dass in den letzten zehn Jahren Durchschnittslöhne im Niedriglohnbereich langsamer gestiegen sind als mittlere Einkommen. Damit hat sich die Schere zwischen Niedriglohnempfängern und dem Rest der Arbeitnehmer weiter vergrößert.
Heute haben die meisten der 27 EU-Mitgliedstaaten Mindestlöhne eingeführt. Ich kenne die Ängste vor Mindestlöhnen. Aber alle Informationen, die wir haben, belegen, dass die Einführung von Mindestlöhnen nicht zu Störungen der Arbeitsmärkte geführt hat. Zudem können Mindestlöhne zu anständigen Einkommen beitragen. Ob gesetzlich oder tariflich geregelt, der Mindestlohn bleibt eine Sache des Mitgliedstaates.“
Stichwort EU-Kampagne 2010 gegen Armut: Was sind die Ziele?
Laszlo Andor: „Das Hauptziel dieses Europäischen Jahres ist es, das Bewusstsein für das Thema zu schärfen: bei den Bürgern, bei Interessensvertretern und lokalen Partner und den Entscheidungsträgern. Ich glaube, dass wir Menschen nur dann zusammenbringen können, um gegen Armut und soziale Ausgrenzung zu kämpfen, wenn wir uns gemeinsam engagieren.
Dieses Jahr wird auch erklären, wie die EU bei der Suche entsprechender Finanzierung beitragen kann und wie ein Erfahrungsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten gefördert wird.
Ich persönlich glaube, dass wir konkrete Armutsreduktionsziele auf europäischer Ebene brauchen. Das würde ein starkes Zeichen der echten Bereitschaft der EU setzen, sichtbare Ergebnisse bei der Armutsbekämpfung zu erzielen.“