Sie verteidigen eine Grenze, die es nicht mehr gibt. Martin Fischer ist einer von ihnen. Abendblatt-Redakteurin Vanessa Seifert erzählt seine Geschichte.
Berlin/Hamburg. Einen Befehl gibt es nicht. Seinen Auftrag kennt er trotzdem. "Es ist deine Pflicht", flüstert seine innere Stimme gegen den lauten Jubel und die spitzen Freudenschreie von außen an, "die alte Ordnung wiederherzustellen." Nur wie er das anstellen soll, das flüstert ihm niemand. Es ist, als rase in diesen Minuten die gesamte Deutsche Demokratische Republik auf ihn zu. Zusammen mit anderen Grenzoffizieren hat er eine Mauer gebildet, die nicht so löchrig werden darf wie die, auf der sie stehen.
Er spürt, wie ein junger Mann in Jeansweste am Hosenbein seiner tarnfarbenen Uniform zieht. Er sieht, wie eine dauergewellte Blondine auf die Mauer klettert und eine rote Rose in den Gewehrlauf eines Kameraden steckt. Er hört, wie zwei junge Kerle ihm zubrüllen: "Hey, hast du's noch nicht mitbekommen. Es ist vorbei, was wollt ihr noch hier?" Der Major antwortet das, was er in den letzten Stunden schon so oft wiederholt hat, dass seine Stimme fast brüchig klingt: "Wir verteidigen das Brandenburger Tor, das Territorium und Eigentum der DDR." Niemand solle ohne Kontrolle die deutsch-deutsche Grenze passieren, hört er sich sagen. Die jungen Männer lachen.
"Ach, lass doch die Grenzsoldaten in Ruhe", ruft plötzlich ein Mann, der sich von der Westseite auf die Mauer gedrängelt hat und nun dicht hinter dem jungen Major steht, "die müssen doch auch erst mal verarbeiten, was hier passiert."
Die innere Stimme des jungen Majors stimmt zu. Er macht hier nur seinen Job. Er steht auf seinem Posten, der eigentlich längst verloren ist. Er steht hier seit dem Morgen des 10. November, hält also bereits seit mehr als 24 Stunden Wache. Während vor seinen Augen mit neuem Schwung die Fahne der BRD geschwenkt wird, hält er die Fahne hoch für einen Staat, der in diesen Minuten zerbröselt. Er tastet nach seiner Pistole, er fühlt sich machtlos in Uniform.
Der 31-jährige Major von damals trägt 20 Jahre später einen grauen Nadelstreifenanzug. Er arbeitet bei einer großen Versicherung in Berlin-Moabit. "Statt SED wähle ich heute CDU", sagt Martin Fischer. So will er sich für diesen Artikel, in dem er zum ersten Mal seine Lebensgeschichte erzählt, nennen. Anderer Name, anderes Leben. Mit den ehemaligen Grenzern, die heute noch in Internet-Foren unter der Flagge mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz aktiv seien, will er nichts zu tun haben. "Das sind Altkommunisten und Ewiggestrige, die aus der Geschichte nichts gelernt haben", sagt Fischer und rückt seine randlose Brille zurecht. Er lebe im Heute.
Zurück geht er nur in der Erinnerung. Wenn er vom 9. November 1989 spricht, dann erzählt er auch von einem "Wunder". Und meint nicht den Fall der Mauer. "Es ist erstaunlich, dass damals in diesem Chaos kein einziger Schuss abgefeuert wurde", sagt er. Schließlich seien viele blutjunge Offiziersanwärter im Einsatz gewesen. Unerfahren und überfordert wie die Erfahrenen. "Es muss die friedliche Atmosphäre gewesen sein, die sich übertragen hat." Ob Polizist auf der Westseite oder Grenzsoldat auf der Ostseite - alle seien irgendwie vereint gewesen. Euphorisch und überfordert zugleich, in einer Stimmung von Neugierde und Ungewissheit. "Niemand wusste, wie es wird, aber alle wussten, dass es anders wird."
Dabei war der 9. November 1989 am frühen Abend noch ein ganz normaler trüber Donnerstag im Herbst gewesen. Martin Fischer ist schwer erkältet, die Nase läuft, der Hals schmerzt. Um 19.30 Uhr schaltet er daheim in der Zweizimmerwohnung in Erkner, in einer Kleinstadt südöstlich von Berlin, die "Aktuelle Kamera" ein. Mit Ehefrau Anne und der siebenjährigen Tochter Yvonne sieht er, wie Günter Schabowski von einem Zettel die neuen Reisebestimmungen der DDR abliest. "Das tritt ... nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich ...", stammelt das Mitglied des SED-Politbüros. Martin Fischer hört die Worte, aber die Bedeutung versteht er nicht. Gegen 20.30 Uhr legt er sich schlafen. Er schreckt auf, als es an der Haustür klingelt. Es ist drei Uhr nachts. "Gefechtsalarm", verkündet der Melder, "unverzüglich versammeln." Fischer zieht hastig die Uniform an, zieht die Stiefel über, verlässt seine Wohnung.
"Dass das keine Übung ist, das wusste ich", sagt er.
Spätestens in der S-Bahn, auf dem Weg zur Kaserne "Ho Chi Minh" in Wilhelmshagen, bestätigt sich sein Gefühl. Die Fahrgäste um ihn herum lesen fast alle eine Westzeitung, eine Sonderausgabe der "Bild"-Zeitung, auf dem Titel: Fotos der Maueröffnung.
In der Kaserne sammeln sich die Offiziere, schalten erst einmal die Nachrichten der ARD ein. Obwohl Westfernsehen, streng genommen, noch verboten war. Sie warten. Auf Befehle. Auf ihre Vorgesetzten, von denen niemand zu sprechen ist. Nicht persönlich, auch nicht telefonisch.
"Heute weiß ich", sagt Martin Fischer, "die meisten hatten sich in ihren Jagdhütten verschanzt. Aus Angst, irgendeine Entscheidung treffen zu müssen."
Bis zum Morgen des 10. November harren Fischer und die 30 anderen Offiziere aus seinem Stab aus. Nach dem Frühstück rollen sie auf Lastwagen Richtung Brandenburger Tor, 20 Kilometer bis zur Mauer. An den Grenzübergängen parken Trabis kreuz und quer, auf den Gehwegen, auf den Wiesen. "Es war, als hätte sich die ganze DDR auf den Weg nach Berlin gemacht", sagt Fischer. Der Staat war am Ende. Ein Staat, dessen Anfang Michael Fischer so begeistert erlebt hatte.
Geboren 1958, wuchs er mit zwei Geschwistern in dem kleinen Städtchen Senftenberg in der Niederlausitz auf, der Vater war Angestellter, die Mutter Kindergärtnerin. "Es mangelte an nichts, ich beobachtete das Aufblühen unserer Republik mit kindlichen Augen." Er fieberte bei den Olympischen Spielen mit den erfolgreichen DDR-Sportlern mit, 1974 war Jürgen Sparwasser sein Held, 1978 der Kosmonaut Sigmund Jähn, der erste Deutsche im Weltraum. "Mein Elternhaus war nicht sehr politisch", sagt er, "aber natürlich haben wir an unsere DDR geglaubt und daran, dass uns die Mauer vorm Klassenfeind schützt." Als Kind liebte er die Bastelzirkel der jungen Pioniere und Bücher wie "Postengang mit Sepp" oder "Drei rote Leuchtkugeln" - die darin beschriebene "Grenzer-Romantik", die habe ihn beeindruckt, sagt er. So nachhaltig, dass er nach einer Lehre zum Elektromonteur als 17-Jähriger beschloss, sich bei den Grenztruppen der DDR zu bewerben.
Ab 1976 studierte er an der Offiziershochschule, leistete danach 13 Jahre lang Dienst. In verschiedenen Stellen des Grenzkommandos Mitte in Berlin. Fischer war von Anfang an zuständig für die "politische Bildung" junger Grenzer. In einer jeweils sechsmonatigen Ausbildung lehrte er die Verfassung der DDR, den Fahneneid, die Dienstvorschriften. Aktiv an der Grenze wurde er selbst nie eingesetzt - das hatte die Staatssicherheit von Vorneherein ausgeschlossen.
"Zum Glück", sagt er. "So kam ich gar nicht erst in die Situation, auf Flüchtlinge schießen zu müssen."
Er habe erlebt, wie andere Soldaten darunter litten. Schießwütig sei von denen niemand gewesen. Fischer kam nicht an die Grenze, weil er eine Tante in Karlsruhe hatte, mit der seine Eltern Kontakt hielten. "Man hatte wohl Angst, dass ich türmen könnte." Nie wäre ihm das auch nur in den Sinn gekommen.
Anders als einem seiner Vorgesetzten. Kaum war die Mauer gefallen, haute der ab. "Das war für mich ungeheuerlich." Einer der "radikalsten Kommunisten", die er je erlebt hatte, schmiss einfach hin. Überhaupt habe sich nach dem 9. November 1989 allerlei Seltsames getan. Linientreue Genossen verteilten in der Kaserne plötzlich das Grundgesetz der BRD, manche aus der Grenzer-Truppe überlegten, wie sie schnellstmöglich beim Bundesgrenzschutz unterkommen konnten. Für Martin Fischer kam das nicht infrage. "Verlogen kam mir das vor, unglaubwürdig", sagt er mit harter Stimme. "Man kann doch nicht von einem Tag auf den anderen die Position wechseln."
Dass niemand mehr an die DDR glaubte, machte auch Fischer klar, dass es nichts mehr gab, wofür er hätte dienen können. Für Martin Fischer bedeuteten diese Erlebnisse die persönliche Wende. Er wollte neu anfangen mit seiner Familie. Der Neubeginn war schwierig, in seinem erlernten Beruf als Elektromonteur fand er keine Stelle. Auch seine Frau war zeitweise arbeitslos. Dann bewarb sich Martin Fischer bei einer großen Versicherung. Mit einem Lebenslauf ohne Lücke. "Ich weiß, dass es Firmen gab, die gesagt haben: Nee, mit solchen Leuten wollen wir nicht arbeiten. Was sollen dann die Kunden denken." Doch Martin Fischer bekam die Stelle. Weil es seinem Arbeitgeber nicht darum ging, was er mal war, sondern was er sein wollte. Das war eine Ausnahme in dieser Zeit, denn viele seiner damaligen Kameraden fanden über Jahre keine neue Arbeit.
"Das Leben kann man nie voraussehen", sagt Fischer nachdenklich. Man kann nur zurückblicken. Heute wird er es tun. Wenn er im Fernsehen die Bilder vom Fall der Mauer sieht, dann werden auch die Bilder in seinem Kopf wach. Die Bilder eines jungen Majors, der die Mauer verteidigt. Damals, nicht mehr heute.