Der Parteichef über Koalitionsmöglichkeiten, Worte von Jesus Christus und über Bürgermeister Ole von Beust als möglichen Bundesumweltminister.
Berlin. Hamburger Abendblatt: Herr Özdemir, das Wunder von Stuttgart ist ausgeblieben, Sie haben Ihren Wahlkreis nicht gewonnen ...
Cem Özdemir: ... Na ja, ich meine: 29,9 Prozent Erststimmen und 22 Prozent Zweitstimmen in Stuttgart sind schon ein grünes Wunder. Das ist das beste Ergebnis der Grünen hinter Kreuzberg-Friedrichshain, wo Christian Ströbele sein Direktmandat verteidigt hat.
Abendblatt: Wie mächtig ist ein Parteivorsitzender ohne Sitz im Bundestag?
Özdemir: Ich bin nicht weniger mächtig als mein Vorgänger Reinhard Bütikofer. Er war auch nicht Abgeordneter und hat trotzdem als Parteivorsitzender viel bewirkt und deutliche Spuren hinterlassen.
Abendblatt: Wer ist die Nummer eins bei den Grünen? Jürgen Trittin, der mit 91 Prozent zum neuen Fraktionsvorsitzenden gewählt worden ist?
Özdemir: Wenn ich recht informiert bin, haben wir eine Doppelspitze gewählt. Renate Künast und Jürgen Trittin sind die Nummer eins in der Fraktion. Die Nummer eins in der Partei sind Claudia Roth und ich.
Abendblatt: Die Grünen haben vor der Bundestagswahl so manches ausgeschlossen, etwa ein Jamaika-Bündnis mit Union und FDP. Wird sich das wiederholen?
Özdemir: Wir haben eine neue Situation. Das Fünfparteiensystem zementiert sich. Unsere Ansage ist: Wir sind das grüne Lager. Wir sind kein rot-rot-grünes Lager, auch kein schwarz-grünes Lager. Ich bin der Vorsitzende einer selbstbewussten grünen Partei, die ihr Potenzial bei Weitem noch nicht ausgeschöpft hat.
Abendblatt: Union und FDP regieren. Zieht es die Grünen da nicht automatisch zu SPD und Linkspartei?
Özdemir: Wir wollen wachsen und dann situativ schauen, mit wem wir grüne Inhalte am besten umsetzen können. Das kann hier die eine Konstellation und dort eine andere Konstellation sein. Das schließt auch Opposition nicht aus. Es gibt hier keine Naturgesetze und keine Automatismen.
Abendblatt: Trittin statt Kuhn an der Fraktionsspitze - damit bewegen Sie sich doch schon nach links ...
Özdemir: Es wäre etwas verwunderlich, unsere beiden Spitzenkandidaten Renate Künast und Jürgen Trittin jetzt nicht an die Spitze der Fraktion zu stellen.
Abendblatt: Sehen Sie die Grünen im Fünfparteiensystem als Zünglein an der Waage?
Özdemir: Die Grünen sind eine Partei in der Mitte der Gesellschaft und des politischen Spektrums. Die anderen müssen schauen, inwieweit sie sich andocken wollen an unsere Inhalte. Das grüne Programm ist ein Angebot an die gesamte Gesellschaft. Union und FDP sind Teil dieser Gesellschaft. Insofern geht unser Angebot auch an sie.
Abendblatt: Wann regieren Sie mit der CDU im Bund?
Özdemir: Wir werden genau beobachten, was die neue Regierung unter Klimaschutz versteht. Wir werden schauen, ob Schwarz-Gelb die Laufzeiten von Atomkraftwerken verlängert und neue Kohlekraftwerke baut.
Abendblatt: Würden sich Union und FDP damit disqualifizieren?
Özdemir: Uns geht es um Existenzsicherung auf diesem Planeten, um Verantwortung für die Schöpfung. Atomkraft ist eine Energieform, die von Menschen nicht beherrschbar ist. Es steht uns nicht zu, nachfolgenden Generationen Müll für eine Million Jahre zu hinterlassen. Das übersteigt das menschliche Maß.
Abendblatt: Wer Kernkraftwerke länger laufen lässt, scheidet für Sie als Koalitionspartner aus?
Özdemir: Wer das tut, handelt nach einem anderen Menschenbild als wir. Aber es gilt auch das Prinzip: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. In einem Jesuswort fragt Petrus: Wie oft soll man vergeben? Ist siebenmal genug? Und Jesus antwortet: Nein, 70-mal siebenmal ist nötig.
Abendblatt: Was leiten Sie daraus ab?
Özdemir: Wenn wir beispielsweise mit Umweltsündern grundsätzlich nicht reden würden, würden wir unseren politischen Gestaltungsanspruch aufgeben.
Abendblatt: Dass die SPD ihren Anti-Atomkraft-Kämpfer Gabriel zum Parteivorsitzenden macht, müsste Ihnen gefallen ...
Özdemir: Also, ich schätze den Sigmar Gabriel. Das ist ein Fighter, der versteht etwas vom Kämpfen. Wir werden sicher gut zusammenarbeiten, aber es gibt keine Koalition in der Opposition.
Abendblatt: Gabriel will die SPD zur Linkspartei öffnen ...
Özdemir: Wenn man Ausschließeritis ablehnt, darf man auch Koalitionen mit der Linkspartei nicht ausschließen. Aber klar ist: Die Linke muss sich bewegen.
Abendblatt: Wohin?
Özdemir: Sie wird künftig nicht gleichzeitig plakatieren können "Reichtum für alle" und "Reichtum besteuern". Das ist nicht nur ein logisches Problem, das ist auch eine Form von Unernsthaftigkeit. Die Linke hat auch auf ihre Wahlplakate geschrieben: "Raus aus Afghanistan". Und jetzt sagt sie plötzlich, so schnell wird das nicht gehen. Auch ihre Vergangenheit wird die Linkspartei aufarbeiten müssen. Sie sollte sich ehrlich und selbstkritisch damit auseinandersetzen, dass ehemalige Stasi-Leute in ihren Reihen sind.
Abendblatt: Die Hamburger Grünen koalieren mit der CDU - sind sie Exoten oder Avantgarde?
Özdemir: Was die Grünen in Hamburg machen, wird immer wichtiger. Wir haben in der Hansestadt viel erreicht, denken Sie nur an die Schulreform. Diese Politik wirkt weit über Hamburg hinaus. Sie hat Modellcharakter für ganz Deutschland. Es ist kein Zufall, dass ich sehr oft in Hamburg bin und mit den Hamburger Freunden zusammenarbeite.
Abendblatt: Die Spekulationen reißen nicht ab, Ole von Beust könnte Umweltminister werden ...
Özdemir: ... in Hamburg? Ich hätte nichts gegen die Rochade.
Abendblatt: Als wahrscheinlicher gilt ein Wechsel ins Bundeskabinett. Hätte Schwarz-Grün ohne von Beust eine Zukunft?
Özdemir: Es ist kein Geheimnis, dass Ole von Beust für eine andere Politik steht als etwa Roland Koch. Sie bitten mich auf das Feld der Spekulation, aber gut: Ich gehe mal davon aus, dass die Hamburger CDU noch andere Leute hat, die einen schwarz-grünen Senat führen könnten. Es müsste ja nicht Innensenator Ahlhaus sein.
Abendblatt: Bundesumweltminister - könnte das von Beust?
Özdemir: Ich habe Ole von Beust bisher nicht als Umweltpolitiker wahrgenommen.
Abendblatt: Immerhin ist er Umweltbeauftragter der CDU...
Özdemir: ... und hat ein Papier vorgelegt, das doch sehr altbacken daherkommt, wenn man sich die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke anschaut. Bei der baden-württembergischen Umweltministerin Tanja Gönner hat man den Eindruck, dass ihr der Umweltschutz ein wirkliches Anliegen ist. Allerdings kommt sie in ihrer Partei damit nicht weit. Um etwa beim Klimaschutz voranzukommen, braucht es immer noch uns Grüne.