Vor 20 Jahren verkündete Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Flüchtlingen in der deutschen Botschaft, dass sie in den Westen dürfen.
Berlin. Sie leben wieder dort, wo in der DDR ihr Zuhause gewesen ist: auf dem Lutzberg in einem ehemaligen Bauernhaus, am Waldrand, sieben Kilometer vom Zentrum der kleinen thüringischen Stadt Gerstungen entfernt. Vor 20 Jahren haben Susanne Kuhn (50) und ihr Ehemann Hubert Kuhn (52) Geschichte geschrieben.
Damals, am 30. September 1989, blickte die ganze Welt auf das Palais der deutschen Botschaft in Prag. Dort hielten sich mehr als 4000 Flüchtlinge aus der DDR auf, warteten seit Wochen und Monaten auf die Ausreise in die Bundesrepublik - darunter Familie Kuhn mit ihren drei kleinen Kindern. Sie hatten am längsten in der Botschaft ausgeharrt - seit dem 1. Juli 1989. Im September hatte sich die Lage dramatisch zugespitzt. Außenminister Hans-Dietrich Genscher wollte die Botschaften in Prag, Budapest und Warschau in jedem Fall offen halten. Zwei Monate nach einem Herzinfarkt flog er zur 44. Generalversammlung der Vereinten Nationen nach New York. Mit UdSSR-Außenminister Eduard Schewardnadse suchte er eine Lösung. "Wir wären auf keinen Fall zurückgegangen", sagt Hubert Kuhn.
Die Kuhns haben in der DDR nicht von Anfang an gelitten. Hubert Kuhn hatte eine gute Stelle beim Rat des Kreises in Gerstungen, war zuständig für Wasserwirtschaft und Umweltschutz. Susanne Kuhn arbeitete als Facharbeiterin für Schreibtechnik. Die Kinder Axel, Katharina und Constantin wurden zwischen 1978 und 1982 geboren. 1981 kauften die Kuhns für 20 000 Ost-Mark ein Fachwerkhaus auf dem Lutzberg. Susanne Kuhns Schwester sagte: "Ihr habt doch alles, was wollt ihr denn?"
Doch nichts war in Ordnung. Als sich Hubert Kuhn taufen ließ, damit er seine Frau zum Gottesdienst begleiten konnte, wurden die Einschränkungen massiv. Ein roter Wartburg der Stasi war ihr ständiger Begleiter, auf der Arbeit gab es Ärger, der älteste Sohn durfte kein FDJ-Pionier werden. Susanne Kuhn hatte das Gefühl, "dass ich nicht sagen kann, was ich denke".
Ende 1986 reichte es. Die Kuhns stellten den ersten Ausreiseantrag - und damit wurde alles schlimmer. Im Februar 1987 wurden sie aus dem Grenzgebiet zur "BRD" zwangsweise nach Sömmerda umgesiedelt. Ihr Haus hatten sie zuvor auf einen Bruder überschrieben. Nach dem letzten abgesagten Ausreiseantrag stand ein Mann aus dem Kreisamt vor der Wohnungstür in Sömmerda und sagte: "Sie müssen weg!" Keine Woche länger wollten die Kuhns in der DDR bleiben.
Am 30. Juni gab es Zeugnisse für die Kinder, am gleichen Tag fuhren die Kuhns nach Dresden, von dort weiter nach Prag. Es war ein Sonnabend, die Botschaft war geschlossen. Sie warteten vor den Toren, ehe eine Mitarbeiterin klingelte und sich das Tor öffnete. Susanne Kuhn und der älteste Sohn liefen auf das Botschaftsgelände, ein tschechischer Milizionär versuchte, Hubert Kuhn festzuhalten. "Die Kleinen waren wie erstarrt", erzählt er. Erst nach einem Handgemenge waren alle auf sicherem Terrain.
In der Botschaft wurden die Kuhns in einer kleinen Wohnung mit einer Kochnische unter dem Dach einquartiert. Ein paar andere Flüchtlinge kehrten bald in die DDR zurück - sie vertrauten auf die "wohlwollende Prüfung" ihrer Ausreiseanträge. Der bundesdeutsche Botschafter Hermann Huber und seine Frau Jacqueline kümmerten sich aufopferungsvoll um die Flüchtlinge. Die Kuhns wurden mit Bundeswehr-Essensrationen versorgt, "Essen Nr. 4 enthielt Grießbrei, das mochten die Kinder", sagt Susanne Kuhn. Der Hausmeister brachte mal ein Stück Kuchen oder einen Beutel Obst mit, auch Haarwaschmittel und Kosmetika. Die harten Kekse aus den Bundeswehr-Paketen tauschte Susanne Kuhn bei den Botschaftsmitarbeitern gegen Eier. "Wer in der DDR aufgewachsen ist, kann organisieren", sagt sie. Den Hof durfte die Familie nur betreten, wenn die Botschaft für Publikumsverkehr geschlossen war. Die Botschafter-Gattin besorgte eine Schultüte - zum Schulanfang für Constantin, den jüngsten Sohn - und Schulbücher, die Eltern unterrichteten ihre Kinder. "Wir hatten doch ein Riesenglück", sagt Hubert Kuhn. "Wir waren sicher." Unter den neu eintreffenden Flüchtlingen fanden die Kinder Spielkameraden. Von Tag zu Tag drängten mehr DDR-Bürger in die Botschaft. Mitte August waren es 70, dann 100, 200, 500, dann 1000. Täglich kamen zwischen 20 und 50 Menschen neu in die Botschaft. Rund um das barocke Lobkowitz-Palais parkten die Trabis.
Die tschechischen Polizisten versuchten nur zaghaft, die Flüchtlinge vom Botschaftszaun zurückzuzerren. Am 25. August ließ der Botschafter sechs große Zelte aufstellen. Das Rote Kreuz kochte mit Gulaschkanonen gegen den Hunger an. Die Bundeswehr schickte Stockbetten, die sich auf vier Etagen türmten, auch die Repräsentationsräume der Botschaft wurden genutzt. Bald harrten 2000 Menschen im Haus und im Garten aus. Es gab nur 22 Toiletten, die hygienischen Verhältnisse wurden immer schlimmer. Im September schlug das Wetter um, es regnete in Strömen, der Botschaftspark verwandelte sich in eine Schlammwüste. Paletten der Bundeswehr wurden als Zeltböden genutzt. Familie Kuhn teilte die Dachwohnung mit anderen Familien. "Es war qualvoll eng", erzählt Susanne Kuhn. "Matratze lag an Matratze, der Gang nur einen Fuß breit."
Die Stimmung verschlechterte sich. Rechtsanwalt Wolfgang Vogel versuchte als DDR-Unterhändler in Begleitung von Gregor Gysi, damals ebenfalls Anwalt, die Menschen zur Rückkehr in die DDR zu bewegen - mit dem bekannten Versprechen, die Ausreise "wohlwollend" zu prüfen. "Ich habe Vogel gefragt, ob er für die Sicherheit meiner Familie garantieren kann", sagt Hubert Kuhn. "Er hat nicht reagiert."
Mal wurde ein Hungerstreik abgewendet. Mal glaubten Flüchtlinge, einen Stasi-Mitarbeiter enttarnt zu haben. Mal verschwanden die Brotmesser, die Botschaftsmitarbeiter befürchteten eine Geiselnahme. Die Ungewissheit war das größte Problem.
Genscher sprach in New York mit DDR-Außenminister Oskar Fischer ("Ich hatte das Gefühl, dass er das Problem verstand") und suchte eine Lösung. Genschers Vorschlag: "Nicht Rückkehr in die DDR, sondern Durchfahrt durch die DDR - für eine Stunde, nicht für sechs Monate." Also eine Zugfahrt von Prag über Dresden ins bayerische Hof.
Am 28. September erreichte Genscher ein Anruf, dass Schewardnadse ihn dringend persönlich sprechen wolle. Vor dem Hotel an der United Nations Plaza waren alle Dienstwagen verschwunden, auf der Straße war kein Taxi zu finden, Genschers Mitarbeiter stoppte einen Polizeiwagen. Die Cops interessierte es nicht, um wen es sich handelte. Erst als der Mitarbeiter von den DDR-Flüchtlingen in Prag sprach, reagierten die Polizisten sofort. "Mit Blaulicht ging es zur sowjetischen Botschaft", erzählt Genscher. Dann war alles klar: Die Flüchtlinge durften raus, aber sie mussten mit dem Zug über Dresden nach Hof fahren.
Am Nachmittag des 30. September, ein Sonnabend, flog Genscher von Bonn nach Prag und fuhr auf direktem Weg zur Botschaft. Nur ein Fernsehjournalist filmte den Auftritt Genschers auf dem Balkon. Die Bilder waren zu dunkel, etwas verwackelt - aber die einzigen Dokumente eines Weltereignisses.
Und dann sagte der Außenminister die Worte: "Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." Der Rest ("... in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist") ging in einem tausendfachen Jubel unter. Um die Flüchtlinge zu beruhigen, sagte Genscher, dass er persönlich dafür bürgen werde, dass ihnen nichts passieren werde.
Nur knapp zwei Stunden blieb der Außenminister in der Botschaft. Der Balkon wird heute gerne "Genscher-Balkon" genannt. Die Flüchtlinge packten ihre Sachen. "Wir haben nur den Aufschrei gehört", sagt Hubert Kuhn. Eine Frau kam in die Dachgeschosswohnung und schrie: "Wir dürfen alle raus!" Hubert Kuhn fragte über das Haustelefon bei der Botschaftswache nach, ob das stimmte.
Mit Bussen ging es zum Bahnhof, von dort mit dem Zug über Dresden nach Hof. Die Tschechen winkten, auch die Menschen an den Bahnhöfen, die der Zug passierte. An der Grenze ging alles glatt, auch wenn die Stimmung emotional angespannt war.
Politiker und Blasmusiker begrüßten die Flüchtlinge. "Das war völlig unwirklich, das passte nicht", sagt Hubert Kuhn. Seine Frau erinnert sich: "Dauernd wollte mich jemand umarmen, aber ich hatte mich seit drei Tagen nicht richtig gewaschen, nichts gegessen."
Familie Kuhn blieb nach der geglückten Ausreise zunächst in Bayern. Fünf Jahre lang lebte sie in Deggendorf, zehn Jahre in Hof. Hubert Kuhn arbeitete als Bauoberrat, er fühlte sich wohl in Bayern. Frau und Kinder wollten das leer stehende Bauernhaus auf dem Lutzberg in ihrer Heimat aber nicht aufgeben. Ende 2004 gingen die Kuhns nach Thüringen zurück - wenn auch in ein neu gebautes Haus, das alte war nicht mehr zu sanieren.
Die drei Kinder studieren jetzt in Erfurt und Jena und kommen meist am Wochenende zu Besuch. Wegen der Folgen eines Unfalls wurde Hubert Kuhn 2006 frühpensioniert, bis heute leidet er unter einem chronischen Schmerzsyndrom. Bereut er es, so kurz vor dem Fall der Mauer nach Prag geflohen zu sein, dort so lange ausgeharrt zu haben, wo es doch ab November so einfach war, die DDR zu verlassen? "Auf keinen Fall, ich war es mir schuldig, ich wollte das", sagt Hubert Kuhn. "Und es hätte sich doch in der DDR nichts geändert, wenn wir und die vielen, vielen anderen das nicht gemacht hätten."