Der 30. September 1989 ist für den früheren deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher (82) auch nach 20 Jahren noch unvergessen. Damals trat er auf den Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag, um rund 4500 DDR-Flüchtlingen die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland anzukündigen. Erinnerungen an einen Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Einheit.

Abendblatt:

Was bedeutet der 30. September 1989 im Rückblick für Sie?

Hans-Dietrich Genscher:

Das war für mich wohl das schönste, emotionalste Ereignis meiner politischen Arbeit. Diesen Aufschrei - eine schreckliche Last fiel von den Menschen ab -, das vergisst man nie.

Abendblatt:

Welche Bedeutung hatten die Ereignisse in Prag für den späteren Fall der Mauer?

Genscher:

Einen ganz entscheidenden. Man muss bedenken, dass am 10. September die ungarische Regierung gesagt hatte, die Grenze wird geöffnet. Damals gab es die heftigsten Proteste aus Ost-Berlin. Und nur 20 Tage später wird die Prager Botschaft mit Zustimmung der DDR-Regierung geöffnet. Das heißt, die Führung in Ost-Berlin machte innerhalb von 20 Tagen eine Kehrtwendung. Das war das Signal: Die Mauer ist nicht zu halten.

Abendblatt:

Wie waren die Zustände in der Prager Botschaft?

Genscher:

4500 Menschen waren in der Botschaft. Gewiss ein großer Garten und ein auch ein relativ großes Botschaftsgebäude - aber es waren unerträgliche Zustände. Als ich durch die kleine Tür im Torbogen schritt, fand ich hinter der Tür nebeneinander stehend mehrere dieser Drei-Betten-Gestelle, wo Menschen schliefen. Man hat jeden Winkel ausgenutzt, damit ein großer Teil nicht nur in Zelten bleiben musste. Der Boden war schlammig, die hygienischen Verhältnisse schier unerträglich. Was es bedeutet, wenn 4500 Menschen auf engstem Raum miteinander leben, das kann man sich überhaupt nicht vorstellen.

Abendblatt:

Das ist alles 20 Jahre her. Wie ist denn aus Ihrer Sicht heute die Bilanz der Einheit?

Genscher:

Ich ziehe eine positive Bilanz. Dass wir in einem Land leben, dass Demokratie im Osten so selbstverständlich ist wie im Westen, dass eine Generation heranwächst, die noch weiß, dass ihre Eltern eine getrennte Vergangenheit haben, aber dass sie selbst eine gemeinsame Zukunft hat, das ist eine wunderbare Sache. Und es gibt ja ernsthaft niemanden, der die Zustände in der DDR zurücksehnt. Ich habe noch niemanden gesprochen, der gesagt hat: Die DDR soll wiederkommen.